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Europäischer Wanderzirkus in der Kritik

 
     
 
Mit schöner Regelmäßigkeit wird seit vielen Jahren eine Sau durch das europäische Tollhaus der Europäischen Union (EU) getrieben. Sie trägt den für den Politbetrieb exotischen Namen "Wanderzirkus". Gemeint ist der grobe Unfug des Europäischen Parlaments, nun schon seit vielen Jahren permanent zwischen Brüssel (dem Sitz der EU-Kommission
) und Straßburg (dem formalen Sitz des EU-Parlaments) hin und her zu pendeln, was mittlerweile den europäischen Steuerzahler jährlich über 200 Millionen Euro kostet. Parlamentarier in aller Welt betrachten amüsiert und kopfschüttelnd das wandernde Parlament, den Europäern präsentiert es sich als Sinnbild europäischer Narretei. Das Generalsekretariat des Parlaments befindet sich überdies in Luxemburg - man möchte meinen, um räumlich nicht allzu eng mit dem Gegenstand seines Wirkens konfrontiert zu sein.

Ein Dutzend Mal im Jahr pendelt ein gewaltiger, mit Metallcontainern voller Akten und Dokumenten beladener Troß von Lastkraftwagen die 530 Kilometer zwischen Brüssel und Straßburg. Montag abends beginnen dort die Plenarsitzungen, am Donnerstag wird alles wieder eingepackt und zurück nach Brüssel gebracht. Die 732 Abgeordneten reisen mit Hundertschaften von Mitarbeitern, Fahrern und Beamten nach Straßburg an, ansonsten arbeiten sie mit ihren Büros drei Wochen in Brüssel, wo sie zu Ausschuß- und Fraktionssitzungen und auch zu "Minisitzungen" zusammenkommen. In Straßburg verbleiben eine Stallwache und Putzkolonnen; der 1999 fertiggestellte riesige Glaspalast steht dann leer.

Unlängst wurden Vorwürfe gegen die Stadtverwaltung Straßburgs laut, sie habe jahrelang vom Europäischen Parlament für die Abgeordnetengebäude in ihrer Stadt überhöhte Mieten kassiert und sich so bereichert. Die EU zahlt jährlich für zwei Gebäude 10,5 Millionen Euro Miete an die Stadt Straßburg, die den Betrag an einen niederländischen Kapitalfonds weiterreicht, aus dem die Baukosten finanziert werden. Der Vorwurf lautet, die Stadt habe rund 20 Prozent der Miete rechtswidrig einbehalten und so bisher einen Schaden in zweistelliger Millionenhöhe verursacht. Mittlerweile soll diese Differenz 27 Millionen Euro betragen.

Straßburgs Oberbürgermeisterin Fabienne Keller will die Vorwürfe nicht verstehen. Schließlich habe ihre Stadt hohe Aufwendungen für Instandhaltung und Betriebskosten gehabt. Im übrigen, heißt es von französischer Seite, sei diese Frage "politisch, finanziell und juristisch geklärt". War es doch Anfang der 1990er Jahre den Franzosen gelungen, die Straßburg-Sitzungen in den Europäischen Verträgen festzuschreiben, die nur mit Zustimmung Frankreichs, geändert werden können. Als 1997 Abgeordnete nur eine der zwölf jährlichen Sitzungen streichen wollten, klagte Frankreich vor dem Europäischen Gerichtshof und gewann. Nur die sogenannten "Mini-Sitzungen" dürfen hiernach zwischenzeitlich in Brüssel abgehalten werden. Der "Wanderzirkus" also hat höchstricherlichen Segen. Politische Entscheidungen jedoch sind gefragt, um diesen für das Ansehen des politischen Europas höchst schädlichen Unfug zu beenden. Bedenkt man, daß in Luxemburg nicht nur das Generalsekretariat des Europäischen Parlaments beheimatet ist, sondern auch noch der Europäische Gerichtshof, der Europäische Rechnungshof und die Europäische Investitionsbank, wird einsichtig, daß dieser Zustand nicht mit Vernunft, sondern nur aus der geschichtlichen Entwicklung heraus zu begreifen ist.

Bezieht man den Europarat, die erste 1948 gegründete politische Institution Europas mit Sitz in Straßburg, in die Betrachtung des sich organisierenden Kontinents ein, ist festzustellen, daß er die Organisation der europäischen Nationalstaaten ist, während die EU die überstaatliche Integration des einheitlichen Europas zum Ziel hat. Dem Europarat gehören mit Ausnahme Weißrußlands alle Staaten Europas an, von Portugal bis Rußland und von Island bis Zypern. Sie sind demokratisch verfaßt oder befinden sich auf dem oft mühsamen Weg zur realen Demokratie. Die Parlamentarische Versammlung des Europarats, die viermal im Jahr in Straßburg zusammentritt, besteht aus Vertretern der nationalen Parlamente, ist demnach das Spiegelbild der demokratischen Nationalstaaten Europas. Ihre Ausschußsitzungen finden in Paris oder in den Mitgliedsländern statt.

Das sich organisierende Europa ist demnach, gemessen an seinen Institutionen, absolut westzentristisch, was angesichts der gewaltigen politischen Veränderungen in Europa seit 1989 nicht länger zu vertreten ist. Die Selbstbefreiung von totalitärer kommunistischer Herrschaft im östlichen Teil Europas und das Ziel, dem ganzen Kontinent eine friedliche und freiheitliche Zukunft zu organisieren, verlangen eine Neuorientierung der Institutionen in inhaltlicher und regionaler Hinsicht.

Das bedeutet eine Aufwertung des Europarates als Organisation der europäischen Nationalstaaten und inhaltlich die Entwicklung seiner Parlamentarischen Versammlung zur "Zweiten Kammer" des gesamteuropäischen Systems. Regional würde das bedeuten, den Sitz des Europarates in das deutschsprachige Wien zu verlegen und seine Ausschußsitzungen in Königsberg durchzuführen, das dadurch in das europäische Bewußtsein gerückt, für Europa geöffnet und mit europäischem Leben erfüllt würde. Brüssel bliebe Sitz der EU, am besten mit eingeschränkter Umverteilungsmaschinerie. Das Europäische Parlament würde endlich samt seinem Generalsekretariat an seinem bisherigen formalen Sitz in Straßburg beheimatet, und der unglückliche Wanderzirkus hätte ein für allemal sein Ende. Als Symbol deutsch-französischer Aussöhnung wäre Straßburg mehr als eine kurzfristige Zirkusmanege.

Europas Politiker könnten beweisen, daß sie verstanden haben: "Europa ist größer als sein Westen."

Troß beladener Lkws pendelt zwischen Brüssel und Straßburg

Frankreich hat sich seine EU-Behörde per Gesetz sichern lassen
 
     
     
 
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