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Nach dem Besuch des Königsberger Doms verspüren ich und die mich begleitende kleine Reisegruppe Kaffeedurst. Ein Restaurant zu finden ist, so unsere Erfahrung aus vergangenen Jahren, gar nicht so einfach, doch unsere russische Reiseführerin Irina, die eigentlich Lehrerin von Beruf ist, beruhigt uns. Sie weiß eine gute Möglichkeit direkt neben der Börse in der früheren Börsenstraße.
Von der Lindenstraße fahren wir über den Weiden damm zur wiederhergestellten "Hohen Brücke", biegen in den Unterhaberberg ein und erreichen den Bereich der einstigen Vorstädtischen Langgasse, die es eigentlich nicht mehr gibt, da der Lenin-Prospekt heute eine drei- bis vierfache Breite aufweist. Welch entsetzlicher Zustand herrscht in dieser Straße, die sich jetzt als brutale Schneise durch die ganze Innenstadt zieht. Was ist aus dieser Stadt geworden! Einfacher Wohnungsbau, phantasielos mit desolaten Fassaden versehen, zu beiden Seiten der Straße, Läden sind nicht auszumachen, fehlen völlig - keine Restaurants, kaum Leben! Doch plötzlich eine erstaunliche Sicht: auf der rechten Straßenseite taucht die ehemalige Reichsbahndirektion auf. Es ist kaum faßbar, wie dieses historische Gebäude im neobarocken Stil in der damaligen Trümmerwüste den Untergang überdauert hat.
Zu unserer Überraschung finden wir tatsächlich ein recht anständiges Restaurant vor, es gibt Kaffee und Kuchen. Zum Glück haben wir vorher Rubel eingetauscht, denn Westdevisen dürfen jetzt nicht mehr zur Zahlung angenommen werden. Nachdem wir uns um mehrere 1.000-Rubel-Scheine erleichtert haben, brechen wir zu unserem Bus auf, mit dem Ziel, die - nicht mehr wiederzuerkennende - Innenstadt zu durchfahren. Wir fahren auf die 546 Meter lange und 27 Meter breite Hochbrücke zu, deren Architektur durchaus zur Einfallslosigkeit der neuen City paßt und die heute die gesamte Kneiphofinsel inklusive der damaligen Standorte der heute nicht mehr existierenden beiden Brücken über den alten und den neuen Pregel überspannt.
Bereits im Bereich der Auffahrt der Brücke sehen wir auf der rechten Seite die ehemalige Börse. Das einst bedeutende Gebäude der Stadt, das die Schlacht um Königsberg - wenn auch arg getroffen - überdauert hat, fristet heute sein Dasein als Kulturhaus der Seeleute. Sie ist zwar im alten Stile restauriert worden, doch auf dem Dach des Mitteltraktes ist sie mit einer riesigen Lichtreklame versehen worden. Das alte "Zarenblau" des jetzigen Außenanstrichs hat sie sehr russifiziert. Der damalige graue Außenputz gab der Fassade einen strengeren Ausdruck, die Architektur zeigte sich klarer, jetzt ist die Wirkung fremdartig. Wie früher bewachen beiderseits der Treppe die Portallöwen das Gebäude.
Dann erblicken wir den Kneiphof. Früher dicht bebaut und zum vita-len Zentrum der Stadt gehörend, zeigt sich heute dem Betrachter diese einst so prachtvoll bebaute Insel als eine urbane Leere mit verwucherter, wildwuchsüberzogener Grünanlage, einem mäßigen Skulpturenpark und dem Dom als letztem Wahrzeichen der alten Ordensstadt.
Auf der anderen Seite, der linken in Fahrtrichtung, sehen wir den vom Alten Pregel abzweigenden Neuen Pregel, in diesem Bereich "Hundegatt" genannt. Hier stand einst am Westufer das großartige zusammenhängende alte Speicherviertel, eine eigene Welt - sehr eng bebaut und sehr malerisch. Eigene Namen hatten die einzelnen Speichergebäude in der Regel, und ihre Speichermarken prangten an der Fassade. "Pelikan", "Walfisch", "Kasten Noa" und "Hirsch" waren beispielsweise ihre Namen. Im August/September 1944 wurde alles ausgelöscht durch die Luftangriffe der britischen Royal Airforce. Heute steht hier ein Sportpalast in typisch sowjetischer Prägung und trägt mit seiner Architektur zu der Misere dieser katastrophalen Stadtgestaltung bei.
Wir überfahren den Neuen Pregel und haben vor uns auf der rechten Seite das Gelände, auf dem früher das Schloß stand, das, als es noch Ordensburg war, den Mittelpunkt der Altstadt darstellte. König Ottokar II. war es, der mit einem stattlichen Kreuzheer, das Konrad von Masowien herbeigerufen hatte, über das Eis des Frischen Haffs in das Samland eindrang und hier 1255 eine Burg erbaute, um die herum sofort eine Siedlung entstand, die nach ihm "Königsberg" genannt wurde. Die Burg wurde Komtursitz und kurz nach 1309 Sitz des Ordensmarschalls. So entstand hier allmählich eine Stadt, die nach der zweiten Stadtgründung auf dem Kneiphof und der dritten Gründung Löbenicht im Osten "Altstadt" genannt wurde. Sie war die mächtigste der drei Städte, die ihre Handfeste nach kulmischem Recht erhielten. Während Löbenicht die Stadt der Handwerker und Ackerbürger war, entwickelte sich der 1327 vom Orden zur selbständigen Stadt erhobene Kneiphof zu einem in einer ungeheuren Dichte bebauten Quartier der Kaufleute. Zwischen den Gassen herrschte geschäftiges Leben. Nur im Osten blieb der Kneiphof durch den Dom und die 1544 gegründete Universität ein Ort der Ruhe. Er war eine schöne Stadt, und so hieß es nicht umsonst: "Der Altstadt die Macht, dem Kneiphof die Pracht." Die Burg wurde 1457, nachdem Hochmeister Ludwig von Erlichhausen die Marienburg hatte verlassen müssen, Hochmeistersitz, bis der letzte Hochmeister des Deutschen Ordens, Albrecht von Brandenburg, das Ordenskleid für immer ablegte, das Ordensland am 10. April 1525 durch die Reformation protestantisch wurde und Albrecht von Brandenburg den Titel "Herzog in Preußen" annahm. Die Burg wurde nun als Schloß Residenz der Herzöge in Preußen. Erst 1724 verordnete König Friedrich Wil-helm I., der Soldatenkönig, nachdem bei der Prüfung der Kassen eine Verschuldung festgestellt worden war, die Zusammenlegung der drei Städte. Königsberg erhielt den Titel "Königlich preußische Haupt- und Residenzstadt" und durfte im neuen Stadtwappen die alten Wappen der drei Städte unter dem preußischen Adler führen. Christian Papendick
Fotos: Hochbrücke über den Kneiphof: Links ist die ehemalige Börse zu erkennen. Das einst bedeutende Gebäude der Stadt fristet heute sein Dasein als Kulturhaus der Seeleute. Der Außenanstrich in "Zarenblau" gibt dem ehemals grau gestrichenen Bau ein russischeres Aussehen. Foto: Papendick
Königsberger Schloß um 1969: Die Aufnahme aus Richtung Nordnordwest zeigt die letzten Ruinenreste des ostdeutschen Wahrzeichens vor dem endgültigen Untergang mit der - teilweise in Fragmenten noch stehengebliebenen - Außenfront des Nordflügels an der damaligen Schloßstraße sowie sichtbar die Westfront mit den beiden Rundtürmen an der Nordwest- sowie an der Südwestecke des Schlosses. Der Turm der Schloßkirche ist bereits weggesprengt. Von der kaum zu erkennenden Westfront sind lediglich die mächtigen sechs Strebepfeiler zu identifizieren. Rechts vom Schloß sieht man im Hintergrund, im Dunst schwer sichtbar, die Börse. Davor, auf das Schloß zulaufend, die neu erbaute Straßenbrücke über den Alten Pregel, die Kneiphofinsel und den neuen Pregel. Diese wurde Anfang der siebziger Jahre abgerissen und unter Verwendung der stehengelassenen Brückenpfeiler durch die jetzige, sehr viel höher gelegene Hochbrücke ersetzt. Damals existierte, wie im Foto durch zwei von rechts kommende Kraftfahrzeuge schwach erkennbar, offensichtlich noch die Straßenführung der Altstädtischen Langgasse. Heute verläuft hier der Moskau-Prospekt, der an dieser Stelle vom Lenin-Prospekt überkreuzt wird. Die Straßenbahn besitzt wohl im Bereich der an der Nordfront des Schlosses verlaufenden Schloßstraße noch ihre alte Linienführung, stößt jedoch auf die bereits neu verlegte Gleisführung von der erwähnten Brücke kommend, die in etwa auch der heutigen entspricht. Die parallel zum unteren Bildrand verlaufende Straße könnte noch der alten Junkerstraße entsprechen. Auf der sichtbaren Grünfläche stand die alte Bebauung zwischen Junker- und Schloßstraße. |
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