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Frankreich im Ausnahmezustand

 
     
 
Die Sozialistin Ségolène Royal, voraussichtlich die Gegnerin von Nicolas Sarkozy im Rennen um das Präsidentenamt 2007, versucht in Sachen Innere Sicherheit ihren konservativen Gegner zu übertrumpfen. Knapp eine Woche nach erneuten Straßenschlachten von Randalierern mit der Polizei in zwei "Cités" der Pariser Vorstadt, der Gemeinde Montfermeil und dem benachbarten Vorort Clichy-sous-Bois, hat sie sich in der Pariser Vorstadt Bondy fürs Einschließen von über 16 Jahre alten Delinquenten in militärischen Anstalt
en zwecks Erwerbs eines Mindeststandards an zivilem Verhalten und Erlernens eines Berufes ausgesprochen.

Die Jugendlichen, die "in den Lehranstalten Häuptling spielen und die Einrichtung ins Verderben stürzen", sollen aus diesen Schulen entfernt und in Sonderanstalten untergebracht werden. Sie hat sich auch dafür ausgesprochen, daß schwierige Schulklassen unter Doppelaufsicht, mit einer Lehrkraft, die Wissen vermittelt, und mit einem Aufpasser, der für Disziplin und Ordnung sorgt, unterrichtet werden. Die Eltern der Delinquenten sollen "obligatorische Elternpraktika" absolvieren, wo ihnen die Grundlagen von Kindererziehung beigebracht werden. Davon wird die Bezahlung des Elterngeldes abhängen. Royal, die Tochter eines Obersten der französischen Armee, bedauerte, daß Chirac die Wehrpflicht abgeschafft hat.

Tatsächlich wird heute die Aufhebung des Militärdienstes ohne Zivildienstersatz als ein Fehler von Chirac angesehen, der zu den Jugendunruhen beigetragen habe. Diese Entscheidung des Präsidenten war auch vom damaligen Verteidigungsminister François Léotard kritisiert worden. Darüber hinaus lehnt Royal die Bestrebungen der Sozialisten und der Grünen, leichte Drogen freizugeben, ab.

Diese unerwartete Offensive wurde von der Bevölkerung in der Stadt Lille begeistert aufgenommen. Ségolène Royal hatte sich anschließend in diese Stadt, deren Bürgermeisterin, Martine Aubry, ihre Rivalin innerhalb der Sozialistischen Partei (PS) ist, begeben.

Von Aubry hat sie sich auch bezüglich der Einführung der 35-Stunden-Arbeitswoche distanziert. Auf ihrer Homepage "Zukunftswünsche" ("Désirs d avenir") stellt sie fest, daß diese - seinerzeit von ihrer Parteigenossin - gesetzlich verankerte Arbeitszeitreduzierung den leitenden Angestellten statt den unteren Arbeiterschichten Vorteile gebracht habe. Beim Reifenhersteller "Michelin" haben erstere zusätzliche Urlaubstage erhalten, während letztere auch sonnabends arbeiten müssen. Tatsächlich hat diese Pseudoreform der damaligen Arbeitsministerin Aubry dem französischen Wirtschaftserfolg den Garaus gemacht und den Mittelstand weitgehend ruiniert, damit den radikalen Rechten von der "Front National" Zulauf verschafft.

Als Aubry Royal vor versammelten Sozialisten in Sachen Militäranstalten angriff, erwiderte die Angesprochene, daß uniformierte Feuerwehrleute, Polizisten und Militärs ebenso Staatsbürger der Republik wie alle anderen seien. Da brach Applaus aus. Nichtdestotrotz hat sich die PS, an der Spitze Royals eigener Mann, François Hollande, von ihr distanziert. "Wir haben schon einen Sarkozy, es ist nicht notwendig, zwei zu haben", äußerte ihr Mitbewerber für die Präsidentschaftskandidatur der Linken, Dominique Strauss-Kahn. "Die PS muß Klartext in Sachen innere Sicherheit reden", stellt dagegen Manuel Valles, sozialistischer Abgeordneter der betroffenen Gemeinde Evry, Département Essone, fest.

So wird wohl die Linke nach dem Prinzip "getrennt marschieren, vereint schlagen" zu den Wahlurnen schreiten. Das frisch vermählte Ehepaar Royal-Hollande (sie lebten vorher 30 Jahre ohne Trauschein zusammen und haben vier Kinder) lebt diese Strategie.

Im Sarkozy-Lager schaffte die Offensive der Royal etwas Verwirrung, zumal die Umfragewerte für die Rivalin emporgeschnellt sind: 56 Prozent der Franzosen sind laut Politbarometer TNS-SOFRES derzeit für Royal, 46 Prozent für Sarkozy. Innenminister Sarkozy, der sich vom jähen Absturz seines Parteifreundes Dominique de Villepin in den Umfragen (nur noch 17 Prozent unterstützen Villepin) Chancen erhofft hatte, plant als Antwort auf die Unruhen ein Gesetz zur Verschärfung der inneren Sicherheit einzubringen, das insbesondere vorsieht, daß minderjährige Wiederholungstäter nicht wieder auf freien Fuß kommen. Er hat die Erklärungen der Rivalin ironisch kommentiert: "Sie wirft mir vor, nicht hart genug zu sein, hat aber alle meine Gesetzesvorschläge abgewiesen. Also soll sie dafür sorgen, daß ihre Genossen mich jetzt unterstützen."

Aber Frankreich sitzt auf einem Pulverfaß. In Montfermeil und Clichy, von wo aus die Unruhen im letzten Herbst ausgegangen waren, haben die Straßenschlachten mit der Polizei Ende Mai vier Stunden gedauert. Die bewaffneten Angreifer waren extrem gewalttätig. Sie haben den Rathauseingang beschädigt, ein Gebäude angezündet, das Haus des zur Sarkozypartei UMP gehörenden Bürgermeisters bedroht und denselben angepöbelt. Er hatte durchsetzen lassen wollen, daß Zusammenrottungen von Jugendlichen verboten werden. Sein Dekret wurde vom Verwaltungsgericht annulliert.

Auch in anderen Regionen, insbesondere Lyon und Toulouse, nehmen die Spannungen wieder zu. Das "Gespenst der Gewalt" spukt in den "sensiblen städtischen Zonen", von denen es 750 in Frankreich gibt. Im letzten Herbst wurden über 10000 Pkw, davon 4200 im Raum Paris, in Brand gesetzt und 274 öffentliche und private Gebäude zerstört. Das Neuaufflackern der Gewalt liegt daran, daß alle inhaftierten Randalierer vom Herbst 2005 wieder frei sind. Darüber hinaus haben die Massenproteste der Studenten im Februar/März 2006 gegen die Arbeitsmarktreform der Villepin-Regierung die Gewalttäter aus den unterprivilegierten Bezirken beflügelt.

November 2005, Februar/März 2006, Mai/Juni 2006: Die Unruhen nehmen kein Ende.
 
     
     
 
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