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Viel spannender als der Rückblick aufs Vergangene ist natürlich die Vorhersage dessen, was im nun anbrechenden Jahr 2005 alles ins Haus steht. Sterndeuter und Glaskugelleser haben da bestechend präzise Ausblicke zur Hand. Das war auch vor einem Jahr nicht anders, als man uns oft den Tag genau vorhersagte, was uns 2004 ereilen würde. Ein Augure wußte beispielsweise zu berichten, daß Los Angeles den Sommer nicht mehr erleben würde, da exakt am 9. April ein Asteroid die ganze Stadt plattmache. New York stürbe im Juni 2004 den Strahlentod nach einem fürchterlichen atomaren Terroranschlag, menetekelte ein Kollege. Ein weiterer Weissager beruhigte uns mit der Gewißheit, daß George W. Bush die Präsidentschaftswahlen im November nicht gewinnen würde. Wieder ein anderer wußte auch, warum: Der sagte nämlich voraus, daß der in Europa so ungeliebte Präsident am 19. August einem Attentat zum Opfer falle. Schlimm, dieser Blödsinn. Niemand jedoch überschritt die Grenze zum ganz und gar Unseriösen so schamlos wie ein windiger Vogel aus Deutschland. Der prophezeite uns ohne rot zu werden für den 2. Februar 2004 die „Einführung des weltweit modernsten Maut-Systems für Lastwagen“. Doch da haben dann sowieso nur noch alle gelacht. Nur einer fand das nicht so witzig: Der Kanzler. Immerhin war der bodenlose Schwadroneur sein eigener Verkehrsminister. Schröder paßte die Maut-Pleitenserie nicht ins Konzept des „Innovationsjahres 2004“. Haben Sie’s schon vergessen? Ja, das hat der Kanzler vor zwölf Monaten mit viel Pomp eingeläutet – und er hielt Wort, denn die Liste der „Innovationen 2004“ ist stattlich: Praxisgebühr, Steuererhöhungen, Hartz-Beschluß – wir sind einige Schritte vorangekommen. Das hat den deutschen Regierungschef beflügelt, seinen Innovationsdrang auf Europa auszudehnen. Im März beschlossen die europäischen Staats- und Regierungschefs in Lissabon, daß ihre Volkswirtschaften ab jetzt viel schneller wachsen als bisher und daß die EU im Jahre 2010 die dynamischste Wirtschaftsregion der Welt ist, dynamischer insbesondere als die USA. Wie das gelingen sollte, würden sie uns später verraten, so unsere Erwartung. Neun Monate später warten wir immer noch auf die sensationelle Enthüllung, wie Europa an die Spitze der Welt kommt. Es beschleicht einen der Verdacht: Hofften die EU-Granden vielleicht bloß, daß der Asteroid für Los Angeles doch noch kommt und die US-Wirtschaft ruiniert? Oder daß die Chinesen uns zuliebe ihre Wirtschaft mittels deutschem Betriebsverfassungsgesetz, Trittinscher Ökosteuer und bundesrepublikanischer Vorschriftenkeule ebenso zur Strecke bringen, wie wir die unsere – und Japan nebst „Tigerstaaten“ gleich mit in den Abgrund reißen? Denn ohne solche Hilfe von draußen wird der „Lissabon-Prozeß“ unter Brüsseler Aktendeckeln verfaulen. Er müffelt bereits jetzt, so kurz nach seiner Geburt. Aber man kann ja mal träumen: Nicht selten kommt plötzliche Hilfe nämlich von völlig unerwarteter Seite, wie dieses Jahr für die deutschen Sozialdemokraten. Zunächst schien es, als werde 2004 zu einem weiteren Katastrophenjahr für die Sozis. Im Februar warfen sie ihren letzten Rettungsanker ins Wasser und präsentierten Franz Müntefering als künftigen neuen Parteichef. Der „Münte-Effekt“ sollte die zermarterte Partei aus dem Strudel ziehen. Statt dessen ging es munter weiter in die Tiefe: Die Wahlen in Hamburg und Niedersachsen gerieten zum Desaster, Tausende Mitglieder verstopften die SPD-Briefkästen mit Austrittserklärungen und die Umfragewerte kamen allwöchentlichen Hinrichtungen gleich. Nix da mit „Münte-Effekt“. Dann im Sommer jedoch nahte die unverhoffte Rettung aus schwerster Not. Und der da als weißer Ritter über den Horizont galoppierte, war, man mochte es kaum glauben, ausgerechnet die Union! Seit Anbruch der warmen Jahreszeit rackerten sich die alten christdemokratischen Widersacher redlich ab, der SPD auf die Beine zu helfen. Die Methode haben sie der Natur entlehnt: Um ihre Kinder vor gefährlichen Räubern zu schützen, veranstalten Tiereltern einen chaotischen Rabbatz und spielen „leichtes Opfer“, damit das Biest es auf sie absieht statt auf die Kleinen. Dementsprechend fügen sich seit dem Sommer die Unionler in regelrechten Straßenschlachten gegenseitig tiefe Wunden zu. Der Erfolg blieb nicht aus: Tatsächlich hat sich der übellaunige Wähler vom Durcheinander im Nest der Regierung abgewendet und bleckte die Zähne nun gegen die Merkel/Stoiber-Truppe. In Sachsen gelangte die SPD daraufhin erstmals seit 1933 wieder in die Regierung. Damit niemand auf den Gedanken kommt, das unionsinterne Gemetzel zugunsten von Rot-Grün sei nur Schau, hat man uns im Herbst sogar richtige Opfer vor die Füße geworfen: Merz und Seehofer. Manchmal benötigt eine Regierung eben eine hilfsbereite Opposition, um ihr Überleben zu sichern. So war das dieses Jahr auch in Übersee. Erst mußte Washington einräumen, daß es „wohl doch keine Massenvernichtungswaffen“ in Saddams Irak mehr gegeben habe. Wenige Monate später gaben Bushs Geheimdienstler zu, daß auch keine Kontakte zwischen El Kaida und dem Despoten von Bagdad existiert hätten. Selbst bislang Bush-treue Amerikaner rieben sich die Augen. Es sah schlecht aus für die Wahlen im November. Bush-Herausforderer Kerry erkannte den Ernst der Lage und gab fortan sein Bestes, dem Mann im Weißen Haus aus der Patsche zu helfen. So verprellte er mit Verve seine klassische Wählerschaft. Für Kerrys Demokraten stimmen üblicherweise neben den Linksintellektuellen vor allem Arbeiter und arme Leute, die vom Niedergang der großen Industrie an den Rand gespühlt wurden. Bushs Republikaner hingegen stützen sich bevorzugt auf die tiefgläubigen, bodenständigen Mittelwestler. Während Bush seine Anhänger mit allem bediente, was sie hören wollten, verbarrikadierte sich Kerry eisern in den Champagner-Etagen der großen Stars und würdigte die „kleinen Leute“ fast keines Besuchs. Nur einmal erschien er während des Wahlkampfes in einer Armenküche, wo er bleibenden Eindruck hinterließ. Als Geschenk brachte Kerry den Aus- gestoßenen ein paar Paletten „Heinz-Ketchup“ aus der Fabrik seiner Frau mit. Sehr praktisch: Die kosteten nichts. Es stellte sich jedoch heraus, daß das rote Zeug sein Haltbarkeitsdatum schon um ein halbes Jahr überschritten hatte. Darauf angesprochen, blaffte der „sozial engagierte“ Kandidat los, die „Penner“ sollten froh sein, wenn sie überhaupt etwas bekämen. Freundlicherweise machte er den Striptease seines sozialen Gewissens, während das Mikro noch an war. 2004 dürfte das erstemal in der Geschichte der USA gewesen sein, daß die Insassen von Armenküchen, Sozialstationen und Obdachlosenasylen mehrheitlich den republikanischen Bewerber gewählt haben. Bush wußte, was er an einem so aufopferungsvollen „Herausforderer“ hatte und dankte Kerry nach seiner Wiederwahl für den „fairen Wahlkampf“. Die deutsche CDU/CSU hatte ja schon 2003 mit dem Hohmann-Rausschmiß gezeigt, daß auch sie es versteht, die eigene Kernwählerschaft unschädlich zu machen. Doch wie die weiteren Monate zeigten, reichte das allein nicht, um der Regierung aufzuhelfen. Als es im Sommer wegen der Hartzdemos noch einmal eng zu werden drohte für Schröder und Co., legte die Union daher ihren tiefkranken „Gesundheitskompromiß“ nach. Der endlich brachte die Wende. Da allerdings wurde den Schwarzen dann doch bange. So gänzlich untergehen wollten sie nun wieder nicht. Aufgeregt kramten sie vergangenen Herbst in alten Unterlagen, um dort irgendetwas Vorzeigbares zu finden, mit dem man das Gesundheitsfiasko zudecken könnte. Sie fanden nichts als einen vergilbten Ordner aus der Zeit der Hohmann-Beseitigung. Da stand nur noch schwer entzifferbar „Patriotismusdebatte“ drauf. Drinnen war zwar so gut wie nichts, nur ein paar Zettel mit gutklingenden Vokabeln. Da aber auf die Schnelle nichts Besseres zur Hand war, nahm man was man hatte. Und weil Merkels Leute die eigene Klientel nicht noch weiter verunsichern wollten, mußte nun alles absolut CDU-typisch ablaufen, so wie man es kennt. Das heißt zuallererst: Ein Trend muß immer schon gut abgehangen sein, bevor sich die Christdemokraten dranwagen. Das war beim Patriotismus gegeben, selbst die seit Jahrzehnten lustvoll vaterlandsverachtende Kunst- und Kulturszene hatte Deutschland längst wiederentdeckt. Der neue Bundespräsident, den die Spitzen von Union und FDP in der Berliner Wohnung von Guido Westerwelle auspokerten (weil alle denkbaren Kandidaten aus den gängigen Parteikadern ihr Verfallsdatum schon weit deutlicher überschritten hatten als Kerrys ranzige Tomatensoße), hatte seinen Patriotismus im Mai öffentlich zugegeben und war dafür nicht geschlachtet worden. Parallel dazu ging die verordnete Begeisterung der Deutschen für alles möglichst Nichtdeutsche nach den Anschlägen von Madrid im März und Amsterdam im November spürbar zurück. Zuguterletzt verwendeten die Rot-Grünen den Vaterlandsbegriff sowieso längst nach Belieben – kurz: die Luft schien rein in Sachen Patriotismus, die Union konnte es, freilich als letzte, auch mal wagen. Aber natürlich nicht ohne Rettungsringe: Der Unions-Patriotismus wurde in ein dickes Tuch fein gestickter Einschränkungen ge-wickelt, auf die Schröder bezeichnenderweise bei seiner Forderung nach dem „deutschen Weg“ schon 2002 fröhlich gepfiffen hatte. Heraus kam die Losung: „Patriotismus ist gleich Grundgesetz plus Westbindung und 3. Oktober“, Schluß. Die Deutschen waren enttäuscht. Die Sache geriet dermaßen pladderig, daß man sie nicht einmal ihnen vorsetzen konnte. Sie hätten es schon ein klein wenig deftiger vertragen. Dies war abermals die Stunde, in der sich die Solidarität der Parteien bewähren mußte, was sie auch tat: So wie die Union der Regierung im Sommer unter die Arme gegriffen hatte, so eilte jetzt Rot-Grün zur Stelle, um sich revanchieren. Schröders und Fischers Türkei-Besoffenheit öffnete uns die Augen, das der rot-grüne Patriotismus in Wahrheit noch dünnflüssiger ist als jener der Union, auch wenn Schröder den seinen raubauziger formuliert hatte. Plötzlich stimmt die Welt wieder und wir erleben etwas, was die, die unter 30 sind, im Grunde noch nie wirklich zu Gesicht bekamen: Richtige Unterschiede zwischen den beiden großen Parteien in einer wichtigen Frage. Wir sind beeindruckt. Die Älteren bleiben natürlich skeptisch. Sie haben so ihre Erfahrungen gemacht: In den 70ern lief die CDU/CSU-Opposition Sturm gegen alle möglichen Dinge wie die Ostverträge, die Staatsverschuldung oder den überbordenden Sozialstaat. Nach Kohls Regierungsantritt wurden der DDR Milliarden zugesteckt, die Verschuldung ging munter weiter und der Sozialstaat blieb, wie er gewesen war. Ob die Union nach einem erneuten Regierungsantritt abermals die „Kontinuität der deutschen Politik“ entdeckt, die auf der „bindenden Kraft der Verträge“ beruhe („pacta sunt servanda“), nach denen die Türkei nun einmal – schweren Herzens – aufgenommen werden müsse? Bleibt abzuwarten. Wesentlich für den Erfolg der Beitrittsverhandlungen wird sein, daß die „Eliten“ unseres Landes bis zum Abschluß nicht auf unstatt-hafte Weise mit weniger erfreulichen Aspekten unserer Großstadtghettos konfrontiert werden. Wer gescheiterte Integration und Re-Islamisierung hiesiger Moslems als Realität in seinem eigenen Viertel erlebt, den befallen unter Umständen „irrationale Ängste“ für den Fall weiterer Millionenzuwanderung aus Anatolien. Wer woanders wohnt, ist da schon viel optimistischer. Man darf halt nicht allzu nah dran sein. 2004 war da lehrreich: Den 200fachen Mord von Madrid überstand die Multikulti-Vision erstaunlich gut. Es waren eben bloß ein paar namenlose Vorstadtpendler. Mit Theo van Gogh hingegen wurde zwar „nur“ einer ermordet. Aber die Intellektuellen erkannten schnell: er war einer von uns! Das war der Unterschied. Nach Madrid war man somit noch bereit gewesen, die Dialog selbst mit den verlogendsten Islamisten um jeden Preis fortzusetzen, den man anderen zumuten mochte. Nach Amsterdam jedoch breitete sich ein mulmiges Gefühl aus. Indes – wie es scheint, erholt sich die wunderbare Idee von Multikulti auch von diesem Schock langsam, aber sicher. Wir wollen es halt noch einmal wissen. 2005 wird es uns wissen lassen. Prosit Neujahr! Blockierte Republik: "Die Abfahrt verzögert sich um weitere..."
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