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Der "Zentralrat der Juden in Deutschland", der, quasi ein Gewissen der Nation, so oft den Finger an die Wunden der Zeit legt und auch immer schnell bei der Hand ist, Schuldige zu benennen, hat in diesen Tagen selber ein Problem, und niemand will schuld daran sein. Er ist mit sich selbst uneins in der Frage seiner Solidarität mit Israel. Es geht um Israels Bombenkrieg im Libanon. Offenkundig ist der Zentralrat zerstritten in dieser Frage. Denn der "Aufruf zur Solidarität mit Israel" vom 28. Juli 2006, unterzeichnet von der Präsidentin Charlotte Knobloch und dem Vizepräsidenten, Professor Salomon Korn, ist so auffällig lau und nichtssagend, wie ihn nur Gremien herausgeben, die verschleiern wollen, daß sie untereinander keine Einigung erzielen konnten.
Schon der Anfang der mit großem Aufwand verbreiteten Erklärung zeugt von Verlegenheit und der Scheu, wenigstens ein paar Worte über den Luftkrieg gegen libanesische Städte und Dörfer zu sagen. Über 600 tote Zivilisten, hauptsächlich Frauen und Kinder. Vielleicht waren einige von ihnen Parteigänger der Hisbollah, jetzt sind es alle. Kein Wort über sie. Statt dessen verweist man auf die nächst höhere Instanz: "Mit dieser Solidaritätserklärung schließt sich der ,Zentralrat der Juden in Deutschland einer europaweiten Aktion des Europäisch Jüdischen Kongresses an." Weiter: "Israel möchte sowohl mit dem Libanon als auch mit seinen übrigen Nachbarn in Frieden leben. Angesichts der aktuellen Eskalation im Nahen Osten drücken wir unser tiefstes Bedauern über jedes Opfer der derzeitigen Eskalation aus." So wenig überzeugend hat der Zentralrat noch nie Israel verteidigt. Die Ratlosigkeit ist offenbar groß. Die Verantwortung für die aktuelle Situation trage nicht Israel, sondern die libanesische Regierung, weil sie die Hisbollah nicht aufgelöst habe. Die Welt dürfe nicht tatenlos zusehen, wie terroristische Kräfte, unterstützt und gesteuert aus dem Iran und Syrien, die Region in ein Chaos stürzten. Und jetzt wird es wirklich chaotisch: "Wir fordern die Politik in Deutschland und Europa auf, all ihren Einfluß geltend zu machen, um die Freilassung der entführten Soldaten und die Auflösung der terroristischen Hisbollah zu erreichen und erklären unsere Solidarität mit Israel!" Dies erschien im Internet an dem selben Tag, an dem in den großen deutschen Tageszeitungen der Aufruf der deutschen evangelischen Gemeinde in Beirut abgedruckt wird, in dem es heißt: "Die Zerstörung der nach dem Bürgerkrieg soeben wieder aufgebauten Infrastruktur des Landes (Flughafen, Elektrizitätswerke, Brücken, Straßen, Wohnhäuser) wirft das Land wirtschaftlich in die 80er Jahre zurück. Die Blockierung der Häfen macht die Versorgung von 3,6 Millionen Menschen unmöglich. Die anhaltende planvolle Zerstörung aller Verkehrsverbindungen mit Syrien verwandelt das gesamte Land praktisch in ein großes Gefängnis. Wir erleben diese Zerstörung als Zerstörungswut, wenngleich sie kalkuliert sein mag. Und wir fragen Sie: ,Kann dieser Terror als Selbstverteidigung eines Landes gerechtfertigt sein? Evangelische Gemeinde Beirut."
Die Folgen des Bombenkriegs, der Hunderte von Frauen und Kindern tötet und grauenhaft verstümmelt, sehen die deutschen Fernsehzuschauer jeden Abend mit gesteigerter Fassungslosigkeit. Die Lage des Zentralrats und seiner Präsidentin ist nicht beneidenswert. Sie ist sogar ziemlich verzweifelt. Wie ist ihr zu helfen?
Auf keinen Fall mehr mit der 60 Jahre lang bewährten Methode, Kritiker Israels einfach als Antisemiten zu bezeichnen. Noch am
16. Juli versuchte man es. Da wurde die linke Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul, nicht nur wegen ihrer Haarpracht als die "rote Heidi" bezeichnet, gleich unter den Generalverdacht gestellt, antisemitisch zu sein: "Die Äußerungen von Entwicklungshilfeministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul und anderer SPD-Volksvertreter, wonach die Handlungen Israels schlicht ‚völkerrechtswidrig seien, entspringen den üblichen anti-israelischen Reflexen gerade dieser Politikerin." Aber auch Journalisten des ARD sollen schnell noch mit der Antisemitismus-Keule erledigt werden: "Besonders hinterhältig, ja schon fast antisemitisch (das "fast" dürfte der Hausjurist in letzter Minute hinzugefügt haben, um einen Prozeß zu vermeiden!) ist ein Kommentar im WDR von Jürgen Hanefeld, wo die legitime israelische Verteidigung zum angeblichen ,Überfall auf den friedfertigen Staat Libanon umgeschrieben wird", meint Frau Knobloch am 16. Juli. Die Behauptung, jemand sei antisemitisch, gehörte bis vor wenigen Tagen zu den sicheren Waffen des "Zentralrats der Juden". Wird die Waffe stumpf?
Gibt es in Deutschland überhaupt einen nennenswerten Antisemitismus? Die Deutschen seien antisemitisch, latent oder offen. Ein bewußt unpräzise gehaltener Vorwurf gegen die Mehrheit der Deutschen wurde im Mai dieses Jahres sogar vom israelischen Botschafter vorgetragen. Warum unpräzise? Weil man eigentlich sagen wollte, die Deutschen seien antijüdisch, judenfeindlich. Aber da käme dann, wie immer, wenn man einer Sache sprachlich auf den Grund geht, der Unfug sofort heraus. Denn der Satz: Die Mehrheit der Deutschen haßt alle Juden oder ist judenfeindlich, wäre erkennbar und nachprüfbar absurd. Seltsamerweise - oder sollen wir sagen, deshalb? - benutzt man stets das mißverständliche Wort "antisemitisch". Antisemitisch, das hieße ja etwas gegen Semiten zu haben, also gegen Juden und Araber. Der 1878 von dem österreichischen Schriftsteller W. Marr geprägte Begriff war schon damals irreführend und falsch: Denn zur Sprach-Gemeinschaft der Semiten gehört die Mehrheit aller Araber ebenso wie die Juden. Daß diese Sprachgemeinschaft auch eine Abstammungsgemeinschaft (Rasse) sein könnte, wurde Ende des 19. Jahrhunderts in England und Frankreich behauptet, unter anderem von J. H. Gobineau, H. S. Chamberlain, Paul de Lagarde. "Antisemitismus" wurde nun zu einem Schlagwort, besonders in Rußland, Deutschland und Österreich-Ungarn und dort als Parole gegen die jüdischen Minderheiten beziehungsweise Einwanderer populär. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde die Abgrenzung gegen die Juden zum Programm, allerdings vermied man meistens die Bezeichnung Antisemitismus. Doch wurde Hitlers Politik der Ausgrenzung der Juden als Staatsbürger (Nürnberger Gesetze) und schließlich der Versuch, die jüdisch-stämmigen deutschen Staatsbürger zur Auswanderung zu drängen, als Antisemitismus verstanden. Noch im Krieg versuchte man die jüdischen Deutschen zur Auswanderung zu nötigen, und erst im Juli 1941 wurde das Büro für jüdische Auswanderer nach Palästina in der Meineckestraße 7 in Berlin geschlossen. Wenig später wurde auf der Wannsee-Konferenz die Juden-Vernichtung beschlossen.
Bei genauem Hinsehen stellt sich die Behauptung eines angeblichen Antisemitismus der Deutschen als der Vorwurf heraus, die Deutschen seien nach dem Krieg, trotz Bemühungen der Schulen und aller Medien, immer noch nicht philosemitisch genug. Ist Antisemitismus am Ende nichts weiter als verweigerter Philosemitismus? Doch die Schraube, mit der die jüdischen Organisationen in Deutschland und im Ausland den Druck auf die deutsche Öffentlichkeit jahrelang erhöht haben, ist seit einiger Zeit im Begriff, überdreht zu werden. Genau seit der Zeit nämlich, seit im von Israel besetzten Palästina die sogenannte zweite Intifada begonnen hat, also passiver und aktiver Widerstand gegen die israelischen Besatzungstruppen eskalierte, und die israelische Seite sich dazu gezwungen sah, auf den Terror der Selbstmord-Kommandos ihrerseits mit Terror zu antworten, mit Militäraktionen, bei denen auch Frauen und Kinder getötet oder schwer verletzt werden. Der Libanon-Krieg ist die Übersteigerung aller bisherigen übersteigerten Aktionen. Zum erstenmal schreckt auch in Deutschland - angesichts der grauenhaften Bilder - der Antisemitismus-Vorwurf nicht mehr. Die Schraube ist also bereits überdreht. Kritik an den blutigen Aktionen wird in Deutschland ab sofort nicht mehr als Antisemitismus abgetan. Es ist eine neue Qualität der Kritik entstanden und sie wird auch von einer neuen Generation ausgesprochen. Hier - und in ganz Europa.
Was nun, Frau Knobloch? Wie helfen wir ihr aus dieser verzweifelten Lage? Wir müssen helfen. Denn gegen die Hisbollah, die Speerspitze der militanten Islamisten um Ahmadinedschad und Bin Laden sind wir alle. Vielleicht können auch wir, denen der Zentralrat allwöchentlich Ratschläge für unser Wohlverhalten gibt, unseren jüdischen Mitbürgern einen Rat geben. Das wäre der Vorschlag, auf die Stimmen der Vernunft im eigenen Lager zu hören, die auch in der jüdischen Gemeinde und in Israel selber immer stärker werden, und die auch dort von einer neuen Generation vorgebracht werden. Stimmen wie die von Amos Oz und Daniel Barenboim, die das Ende der Konfrontation mit den palästinensischen Bewohnern des Landes fordern. Frau Knobloch, übernehmen Sie!
Antisemitismus oder "nur" Kritik an Israel? In New York demonstrierten sogar Juden offen gegen die israelische Politik. |
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