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Wissen Sie, was Tolstoj gesagt hat?" "Wie bitte?" "Wissen Sie was Tolstoj gesagt hat? Der russische Schriftsteller. Haben Sie seine Bücher gelesen?" Etwas verwundert blicke ich Touryalay* an. Augen wie Kohle, wachsam, gepflegter Vollbart, ein hochgewachsener, kräftiger Körper, westlicher Anzug mit Krawatte. Bis zu diesem Zeitpunkt war unser Gespräch auf einer unverbindlichen Small-Talk-Ebene verlaufen.
Seit einigen Minuten sitzen wir nebeneinander an einer kleinen Tankstelle direkt neben Camp Warehouse, dem Lager der international en Schutztruppen (ISAF) am Rande Kabuls. Um Frieden und Rechte einer Gesellschaft zu verteidigen, die diese Vorzüge bisher kaum kennt, sind 2850 deutsche Soldaten im Rahmen der ISAF am Hindukusch eingesetzt. Rund um Kabul erstreckt sich ihr Verantwortungsbereich über eine Fläche von genau 2000 qkm - 40 Kilometer von West nach Ost, 50 Kilometer von Nord nach Süd.
Es ist später Nachmittag, die Sonne taucht die kargen Gebirgsketten um uns herum in einen gelblich-rötlichen Schimmer. Eine Dunstglocke aus Sand und Abgasen hängt über der Stadt. Wir warten auf ein Taxi, das im Camp für mich bestellt wurde. Mein Angebot, ihn mit in die Stadt zu nehmen, hat er dankend angenommen.
Touryalay arbeitet im Lazarett des Camp Warehouse als Dolmetscher. Einer von etwa 300 so genannten "Locals" - afghanischen Mitarbeitern - im Lager. Früher, vor den Taliban, hatte er als Arzt gearbeitet. Dann mußte er sich mit Frau und drei Kindern als Gemüseverkäufer durchschlagen. "Teilweise haben wir das Gemüse selber gegessen und nicht verkauft. Schlechte Zeiten." Am 7. Oktober 2001 änderte sich das. An diesem Tag fielen die ersten Bomben der US-Luftwaffe auf Afghanistan.
Doch auch nach der Niederlage der Taliban sieht die politische Landkarte zum Teil genauso aus wie vor ihrer Zeit: Warlord Ismail Khan herrscht trotz seiner Entmachtung durch Präsident Hamid Karsai in Herat, Dostum in Masar-i-Scharif, die Erben Massuds in Kabul, die Nachfolger Masaris in Hasaradschat. Die Warlords, Chefs unabhängiger Milizen, sind allesamt ehemalige Mudschaheddin, Freiheitskämpfer gegen die sowjetische Besatzung in den 80er Jahren. Die Amerikaner hatten sie zu Beginn des Krieges gegen die Taliban als Bodentruppen benutzt, um eigene Verluste so gering wie möglich zu halten.
Heute kontrollieren die Warlords den Zoll und den Drogenmarkt. Sie kassieren bei so ziemlich allen Wiederaufbaumaßnahmen kräftig ab. Allein der Milizenchef General Abdul Raschid Dostum soll so weit über 500000 US-Dollar "verdienen". Pro Tag. Und jetzt geben Männer wie er ihre Macht nicht mehr her.
Am vorletzten Donnerstag übernahm die Bundeswehr das Kommando über die internationalen Einheiten in Nord-Afghanistan. Bis Jahresende sollen 1700 deutsche Soldaten in der nordafghanischen Stadt Masar-i-Scharif stationiert sein. Dort baut die Bundeswehr derzeit ihr größtes Feldlager außerhalb Deutschlands auf. Brigadegeneral Markus Kneip, der das Kommando über die ISAF-Nord führt, hatte die Lage vor Ort zuvor als "eindeutig nicht ruhig und nicht stabil" eingeschätzt.
"Krieg und Frieden ist doch von Tolstoj und ... na ja. Viel mehr fällt mir nicht ein", gestehe ich. Touryalay lächelt: "Wissen Sie, ich würde gerne wieder als Arzt in einem Krankenhaus arbeiten. Doch als Dolmetscher im Camp verdiene ich einiges mehr. Mal sehen, wie lange das noch gut geht." Einige der afghanischen "Locals" im Lager zweifeln. Die ISAF-Friedenstruppe ist gerade mal stark genug, Kabul halbwegs unter Kontrolle zu halten. Aber außerhalb der Hauptstadt tobt der Kampf der Taliban gegen die Alliierten.
Seit der Schneeschmelze auf den Pässen des Hindukusch schwärmen die Gotteskrieger wieder über ganze Landstriche aus. Immer wieder greifen sie aus dem Hinterhalt Konvois an. Und immer öfter werden Mitglieder von Hilfsorganisationen und Polizisten getötet. Insbesondere im Süden des Landes, wo die Taliban mehr als anderswo präsent sind. Neben Straßenbomben, wie sie auch im Irak benutzt werden, sind Selbstmordanschläge zu einer hinterhältigen und lauernden Gefahr geworden. Seit November vergangenen Jahres schlugen mehr als 30 solcher Attentäter zu. Allein in der zweiten Maihälfte wurden mehr als 300 Menschen getötet.
Täglich suchen amerikanische Streitkräfte und Soldaten der "Afghan Military Forces", kurz AMF, in den Bergen nach Korankämpfern. Ronald Neumann, der US-Botschafter in Kabul, sagte der "Süddeutschen Zeitung": "Die Taliban glauben, daß die Nato-Staaten schwach sind und die Europäer weglaufen, wenn sie jetzt hart zuschlagen." Er erwarte daher nach den jüngsten Unruhen in Kabul einen "blutigen Sommer" in Afghanistan.
Tatsächlich ist nach Einschätzung des britischen Friedensforschers Paul Rogers von der Universität Bradford das Terrornetz der El Kaida und die Taliban wieder erheblich stärker geworden. Die USA und ihre Verbündeten seien dabei, den Krieg zu verlieren. Der Chef des Bundeswehrverbands, Bernhard Gertz, sagte der "Leipziger Volkszeitung" dementsprechend auch: "Unser Einsatz in Afghanistan basiert nicht auf einem wirklich schlüssigen Konzept. Die Aufgabenverteilung zwischen den Nationen funktioniert nicht richtig." Insgesamt werde das Ziel verfehlt, die Lebensverhältnisse der Menschen zu verbessern.
Oder um es in den Worten eines Oberstleutnants zu sagen: "Statt sich als Nationalstaat zu etablieren, driftet das Land langsam wieder ins Chaos ab - Schritt für Schritt. Das wird noch bitter hier - und die Party hat noch gar nicht richtig begonnen."
Die Strategie von Taliban und El Kaida ist ebenso simpel wie logisch - und sie hat schon einmal funktioniert: Wie bei den Russen in den 80er Jahren gilt es auch heute, mit blutiger Guerilla-Taktik den Krieg für die ISAF-Truppen so teuer wie möglich zu machen.
Anschauungsunterricht für den vergangenen Erfolg dieser Strategie können sich die Soldaten im Camp Warehouse gleich um die Ecke holen. Fast in Sichtweite ruhen die Zeugen eines anderen Krieges auf dem Schrottplatz: Dutzende zerstörter russischer Panzer, T-54 und T-62, fein säuberlich nebeneinander aufgereiht.
"Ich verrate Ihnen, was Tolstoj gesagt hat: ‚Die stärksten aller Krieger sind nur zwei: Zeit und Geduld. Die Taliban und El Kaida haben davon mehr als genug. Haben die Amerikaner das auch? Habt ihr Deutschen das?"
"Das wird noch bitter hier": Deutscher Soldat auf Beobachtungsposten im afghanischen Gebirge
Die Wirtschaftsexperten sehen schwarz
Afghanistan sei weiter entfernt von Stabilität als jemals zuvor, so der britische Friedensforscher Paul Rogers in einer Studie der unabhängigen Forschergruppe "Oxford Group". Einer neuen IWF-Studie zufolge ist auch der Opiumanbau in Afghanistan weiter gestiegen und bedroht die wirtschaftliche Entwicklung des Landes. Problem sei die unsichere Lage im Süden. Dort habe die Zentralregierung wenig Kontrolle und internationale Hilfe komme deshalb praktisch nicht an, schreibt Autor Adam Bennett von der Nahost-Abteilung des "Internationalen Währungsfonds" (IWF) in Dubai. "Es ist ein Teufelskreis: Die Opiumhändler kontrollieren die Region, deshalb ist die Sicherheitslage prekär, deshalb kann dort keine Entwicklungshilfe geleistet werden, deshalb sind die Bauern arm, deshalb bauen sie Opium an", erläutert Bennett. Das Land lieferte im vergangenen Jahr rund 87 Prozent des Rohopiums weltweit, das zur Herstellung von Heroin benutzt wird. Opium macht nach Schätzung des IWF bis zu 60 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) von Afghanistan aus.
Laut Berechnungen der Weltbank müßten innerhalb von fünf Jahren seit 2001 19 Milliarden US-Dollar in das Land gepumpt werden. Die Uno kalkulierte mit 13 Milliarden - nur für die nötigsten Infrastrukturmaßnahmen. Die Internationale Gemeinschaft einigte sich auf einer Geber-Konferenz in Tokio auf 4,5 Milliarden. |
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