|
Wenn ein Erwachsener in Deutschland diesen Satz sagt, so hält man ihn gleich für dumm. Analphabeten gibt es in unserem Land nicht, und wenn doch, dann müssen sie eben geistig minderbemittelt sein, so lautet die öffentliche Meinung. Bei näherer Betrachtung dieses sehr wohl vorhandenen Problems zeigt sich allerdings, daß alles viel komplizierter ist als angenommen. Fritz Hegelmann sprach mit Betroffenen.
Welcher Depp hat denn das auf das Regal gestellt?" brüllt der Chefs seinen verschüchterten Angestellten an." Mit diesen Worten beschreibt die Senegalesin Amadou einen im Fernsehen laufenden Werbespot. Sie erzählt sehr schnell, verhaspelt sich ein wenig. ""Hast du nicht das Schild gelesen? Da steht groß geschrieben, daß du nichts auf das Regal stellen darfst", schreit der Boß weiter. "Aber Chef, er kann gar nicht lesen", meldet sich ein Kollege zu Wort. Völlig verdutzt erwidert der Chef: "Hätte ich das gewußt" ..." "... dann hätte ich dich schon längst entlassen!" Dieser Einwurf kommt von Karsten. Amadou und der dritte Mitschüler des Kurses, Michael, lachen.
Karsten weiß, wovon er spricht. Vor eineinhalb Monaten hat der 32jährige noch als Tischler gearbeitet, heute ist er arbeitslos. Der Grund: Karsten kann nur sehr langsam lesen und kaum schreiben. Er ist Analphabet!
Analphabeten in Deutschland - gibt es so etwas überhaupt? In dem von Amadou beschriebenen Werbespot ist die Rede von vier Millionen Analphabeten in der Bundesrepublik Deutschland. Eine scheinbar unrealistisch hohe Zahl in einem Land mit neunjähriger Schulpflicht. Will man al-lerdings offizielle Zahlen über die Anzahl der Analphabeten in Deutschland, so bekommt man keine. Wieso nicht? Über alles Mögliche und Unmögliche gibt es Statistiken, warum nicht über Analpha- beten? Weil es Analphabeten nur in Entwicklungsländern zu geben hat, sonst nirgendwo. Basta!
Karsten, Michael und Amadou sehen das allerdings ganz anders. Sie sitzen nicht zum "Spaß an der Freud" in den Räumlichkeiten des "Projekts Alphabetisierung"; sie wollen richtig schreiben lernen. Erst will keiner von den dreien über ihr gemeinsames Problem reden. Doch dann beginnt Karsten.
Er hat nach seinem Hauptschulabschluß eine Tischlerlehre absolviert und bisher auch in diesem Beruf gearbeitet. Vor kurzem allerdings ist sein Kollege, mit dem er zusammengearbeitet und der allen "Schreibkram" erledigt hat, in Rente gegangen. Er sollte daraufhin selbst alle bei den Kunden verrichteten Arbeiten notieren, damit der Chef danach die Rechnungen für die Kunden verfassen konnte. Doch dazu war Karsten nicht in der Lage. Zu krakelig war seine Schrift und seine Rechtschreibung grauenvoll. Wann nimmt man ein "k", wann ein "g", wo ist der Unterschied zwischen "t" und "d", lauteten die schlichtesten Fragen. Zu all dem Chaos im Kopf gesellt sich dann auch noch die Angst, für dumm gehalten zu werden, aber das ist er nicht.
Alle drei Personen in diesem Kurs können es bezüglich des Grades ihrer Intelligenz problemlos mit dem Durchschnitt der Bevölkerung aufnehmen. Sie erzählen sachlich, strukturiert und gut formuliert. Aber aus welchem Grund können sie dann nicht so elementare Dinge wie Lesen und Schreiben?
Karsten überlegt nicht lange. Es sei überwiegend die Schuld seiner Eltern. Diese haben beide viel gearbeitet, um das Haus abzubezahlen. Nur hin und wieder fragte seine Mutter halbherzig, ob er denn seine Hausaufgaben gemacht habe. Er habe dann immer brav genickt, die Freizeit aber in Wirklichkeit mit seinen Freunden verbracht, schließ-lich sei keiner da gewesen, um ihn zu überwachen. Seine drei Geschwister sind voll alphabetisiert. Nur bei ihm wollte es nicht so recht klappen.
Auch Michael hat seine Hausaufgaben nicht regelmäßig gemacht; die Schule geschwänzt haben beide allerdings nur selten. Als Michael zu erzählen beginnt, glitzern Tränen in seinen Augen. Für ihn war Schule "ein Krampf". Die Scheidung seiner Eltern, als er noch zur Grundschule ging, habe ihn sehr mitgenommen, und dann habe seine Mutter ihn auch noch geschlagen, wenn er schlechte Arbeiten mit nach Hause brachte. Irgendwann habe er dann einfach "dicht"
gemacht, beschreibt er sein Verhalten als Kind. Doch trotz allem hat er seinen Hauptschulabschluß und eine Metzgerlehre gemacht. Dank der vielen Tests, in denen die Antworten nur angekreuzt werden müssen, sei seine Schreibschwäche nie aufgefallen.
Bei Amadou ist der Hintergrund ein anderer. Sie ist Ausländerin. Ihr nimmt die Gesellschaft es nicht so krumm, daß sie nicht schreiben kann. Schließlich ist Deutsch nicht ihre Muttersprache. Daß Amadou auch nicht auf französisch schreiben kann, liegt daran, daß ihr Vater ihr im Senegal verboten hat, zur Schule zu gehen, denn schließlich ist sie ja nur eine Mädchen. Mit dem bißchen Geld, über das sie hin und wieder verfügte, bezahlte sie zur Schule gehende Spielkameraden dafür, daß diese sie unterrichteten. In Deutschland machte sie dann eine Ausbildung zur Schneiderin, die sie aufgrund der Nachsicht ihrer Lehrerin auch bestand. Schließlich wußte die Lehrerin, daß Amadou klug ist und vieles weiß. Und so ließ sie, auch wenn sie Amadous Buchstabendurcheinander nicht entziffern konnte, die fleißige Schülerin die Prüfungen bestehen.
Für die drei Kursteilnehmer ist ihre Schwäche eine persönliche Katastrophe. Ihr Selbstwertgefühl ist dadurch stark beschädigt. "Man fühlt sich wertlos", wirft Amadou nachdenklich in das Gespräch mit ein. Die anderen beiden stimmen uneingeschränkt zu. Als Karsten wegen seiner Arbeitslosigkeit seine beiden zehn und 13 Jahre alten Kinder darüber aufklärte, daß er nicht richtig schreiben könne, wurde er von seinem ältesten Sohn ausgelacht. Außer seinen beiden Kindern und seiner Frau kennt aber auch niemand sein demütigendes Geheimnis, und das soll auch so bleiben.
Aber wie lebt man ohne vollständige Lese- und Schreibkenntnisse? "Als wir mit Freunden im Urlaub waren und ich bei einem Tauchkurs ein Anmeldeformular ausfüllen sollte, geriet ich in ziemliche Bedrängnis. Mein Freund war sehr verwundert, warum ich so rumdruckste. Dann schob ich aber vor, ganz dringend auf Toilette zu müssen und bat ihn, in der Zwischenzeit meinen Zettel mit auszufüllen." Karsten arbeitet häufig mit Ausreden, um sein Geheimnis zu bewahren, Michael ist hingegen inzwischen an dem Punkt angekommen, wo er die Heimlichkeiten satt hat. Angst hat er allerdings vor Behördengängen. Formulare in Amtsdeutsch sind das pure Grauen für ihn. Gerade der Staat macht es den Analphabeten schwer, sich im Alltag zurechtzufinden, wobei ja offiziell für den Staat diese Personengruppe nicht existiert. Karsten, Michael und Amadou bestätigen aber, daß man sich recht gut durchlavieren kann, wenn man andere Eigenschaften besser einsetzt. Auswendiglernen, gutes Zuhören und eine ausgeprägte Beobachtungsgabe machen es möglich, unbemerkt als Analphabet in der Welt der Schreibkundigen zu leben. Und so wird das Problem ignoriert, und man versucht, sich irgendwie zurechtzufinden, statt es bewußt wahrzunehmen und zu bekämpfen.
Trotz aller Probleme sind Karsten, Amadou und Michael in den Augen des Kursleiters nur die "leichten Fälle".
Ein Raum weiter: Anne, eine kleine, pummelige Hausfrau Mitte Dreißig, kämpft sich durch den Wust der Buchstaben. Ganz langsam versucht sie, ganze Wörter zu bilden, weiß aber häufig nicht, wie einzelne Buchstaben ausgesprochen werden. Sebastian schimpft sogar wütend. Das "ß" ist ihm unbekannt. Wie spricht man es aus?
Jeder alphabetisierte Mensch faßt sich hier ungläubig an den Kopf. Sebastian ist ein junger, gesunder Mann von 25 Jahren, und der kennt das "ß" nicht? Zähflüssig lesen die vier Kursteilnehmer eine kurze Geschichte aus dem Kinderbuch "Die schwarze Hand" von dem vor kurzem verstorbenen Ostdeutschland Hans Jürgen Press.
Wieso können diese erwachsenen Menschen, die in Deutschland zur Schule gegangen sind, nicht einmal Buchstaben lesen? "Zugegeben, sie sind alle keine Professoren", gibt der Kursleiter zu bedenken. "Sebastian hat beispielsweise die Sonderschule besucht. Der Hauptgrund für ihr Nicht-lesen-Können und natürlich erst recht Nicht-schreiben-Können ist allerdings im sozialen Bereich zu suchen."
Aber nicht nur Zeitmangel und Desinteresse der Eltern oder gar Strafen und Schläge, wenn das Kind nicht versteht, sind Gründe für das Analphabetentum. Auch die Hilflosigkeit der Eltern ist eine wichtige Ursache. Hartmut ist schon über fünfzig Jahre alt. Er befindet sich im "mittleren Kurs" des "Projektes Alphabetisierung". Zur Schule ging er in einem kleinen Dorf im Bayerischen Wald. Die Eltern kannten sein Problem, wußten aber nicht, wie man helfen konnte. "Es ist, als wenn plötzlich eine Mauer meine Gedanken blockiert. Es geht dann einfach nicht mehr weiter", versucht er sein Problem zu veranschaulichen. Wie man ihm über diese ,Mauer hilft, wußten seine Eltern natürlich nicht, denn selbst die Lehrer kannten hier keinen Rat. Hartmuts Vater und auch seine Geschwister machten dann einfach für ihn seine Hausaufgaben, das ging schließlich schneller, als sich ganz langsam mit ihm durch den Schulstoff zu quälen. Gelernt hat Hartmut so allerdings nichts. Im Dorf kannten aber alle sein Handikap und halfen ihm stets. Erst als er nach Hamburg zog, empfand er sein Nicht-lesen- und Nicht-schreiben-Können als ernsthaftes Problem, denn wie fährt man beispielsweise mit der U-Bahn, wenn man die Schilder nicht lesen kann? Und wie erzählt man der tollen jungen Frau, die man kennengelernt hat, daß man Analphabet ist? "Sie wußte, daß ich ihr was verheimliche. Fragte mich sogar, ob ich ein Verbrecher sei." Die Wahrheit hat sie dann allerdings doch nicht so verschreckt, wie Hartmut befürchtet hatte, denn inzwischen sind sie schon seit über zwanzig Jahren zusammen.
Stephan hatte als Kind Fieberkrämpfe und einen Gehirntumor. Was er dadurch in der Grundschule verpaßte, hat er bis heute nicht ganz eingeholt. Lesen kann er, nur das Schreiben will eben nicht so recht. Gerne würde er examierter Krankenpfleger werden, bisher hat er immer nur als Aushilfe gearbeitet, aber ohne Schreiben eben kein Examen.
Außer Hartmut und Stephan ist noch Serap im "mittleren Kurs", doch die junge Türkin hält von den Fragen, warum sie Analphabetin ist, nicht viel. Für sie sind ihre Eltern schuld, jede Diskussion sei nutzlos und verschwendete Zeit; wertvolle Zeit, die sie zum Lernen verwenden könne. Verärgert ergreift sie ihre Unterlagen und verläßt den Raum.
Betrachtet man die Kursteilnehmer genauer, fällt auf, daß sie zwar alle Probleme mit Buchstaben haben, sich diese aber auf den unterschiedlichsten Schwierigkeitsgraden abspielen. Während die einen nur eben kein Gefühl für die richtige Schreibweise bei ähnlich klingenden Buchstaben haben, wissen manche noch nicht einmal, wie man sie ausspricht und gar Wörter daraus liest. Zudem sind auch die geistigen Fähigkeiten ganz unterschiedlich. So findet man bei den langsameren Kursen auffällige Konzentrationsschwächen, fehlende Strukturen im Erzählten und mangelndes Verständnis für Fragestellungen. Bei allen schwingen aber auch Furcht und innere Abwehr gegen das Schwerverständliche mit, die sich bei vielen im Kindesalter und bei einigen noch heute mit nach außen hin sichtbarer Bockigkeit offenbart. Aber alle diese Kursteilnehmer stellen sich ihrem Problem. Sie sind alle freiwillig dort und kämpfen sich durch den Buchstabenwald.
Aber was tut der Staat für diese Personengruppe? Schließlich sind es nicht nur die Eltern, sondern eben auch die staatlich angestellten Lehrer, die es während der regulären Schulzeit nicht geschafft haben, diesen Menschen das Lesen und Schreiben beizubringen. Darüber hinaus hat der Staat ja auch ein Interesse, diese Menschen in den Berufsalltag zu integrieren.
"Als ich beim Arbeitsamt um Hilfe bat, konnten die mir nicht helfen", beschreibt Karsten seinen Fall. "Ich mußte mich selber auf die Suche nach Hilfe begeben." Michael hatte mehr Glück. Sein Betreuer beim Arbeitsamt wußte immerhin, daß es Kurse für Analphabeten gibt, die allerdings nicht vom Arbeitsamt, nicht vom Bund, sondern in diesem Fall bedingt von der Stadt Hamburg mitfinanziert werden. Doch auch diese Kurse gibt es erst seit kurzem.
Als Hartmut in den 70er Jahren seine Anstellung verlor, wollte er etwas gegen seine Lese- und Schreibschwäche tun. Wenn er aber mal auf eine Stelle stieß, die Erwachsenen Lesen und Schreiben beibrachte, so war sie nur für Ausländer, die zudem auch Probleme mit der Sprache an sich hatten und somit ganz anders lernten als Hartmut.
Das "Projekt Alphabetisierung" und viele Volkshochschulen nehmen sich allerdings auch der erwachsenen deutschen Analphabeten an. Sie sperren sich nicht, wie es die offiziellen staatlichen Stellen tun, vor der Tatsache, daß es in Deutschland Analphabeten gibt. Ein Problem kann nur bekämpft werden, wenn man es anerkennt. Das haben Karsten, Michael, Amadou und alle anderen Kursteilnehmer für sich getan. Auch wenn es schwerfiel, diese Schwäche zu akzeptieren, sie haben es getan.
Nutzung der Schrift: Zur Zeit des niederländischen Humanisten und Theologen Erasmus von Rotterdam (1469-1536) waren nur wenige Personengruppen wie Gelehrte, Mönche und Kaufleute alphabetisiert. Die von Friedrich Wilhelm I. 1717 in Preußen eingeführte Schulpflicht schaffte in Europa neue Voraussetzungen. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts bezeichnen sich die westlichen Industrieländer gerne als vollständig alphabetisiert, was allerdings keineswegs der Realität entspricht. |
|