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Zum besseren Verständnis von ,Tod in Venedig ist meiner Meinung nach eine genauere Lektüre von Nietzsche unerläßlich." Ingrid streicht ihr kinnlanges, schlohweißes Haar hinters Ohr, und die anderen Studenten blicken völlig verblüfft auf die Sechsundsechzigjährige. Während alle anderen jungen Mitglieder des Thomas-Mann-Seminars sich größtenteils immerhin dazu in der Lage befunden haben, Thomas Mann s "Tod in Venedig" zu lesen, hat Ingrid begeistert schon zusätzlich jegliche Sekundärliteratur intensiv studiert.
Ingrid ist eine von 12.000 Senioren, die, obwohl sie sich im Ruhestand befinden, als "ordentliche Studenten" an deutschen Universitäten immatrikuliert sind. Weitere 25.000 Personen sind bei Seniorenstudiengängen und als Gasthörer eingeschrieben.
Als Ingrids Mann kurz vor Eintritt ins Rentenalter verstarb, war sie plötzlich allein. Obwohl hin und wieder die Enkel zu Besuch kamen, fühlte die agile Frau sich keineswegs ausgefüllt. Jahrzehntelang hat sie die Korrespondenz ihres Mannes in seinem kleinen Steuerbüro geführt und nebenbei Kinder und Haushalt gemeistert, doch mit dem Tod ihres Gatten war sie unversehens allein und "arbeitslos", und das mit gerade einmal 62 Jahren.
Anfangs wußte sie gar nicht, womit sie ihren Tag ausfüllen sollte. Sie fühlte sich doch noch voller Elan und Schaffenskraft und wollte etwas bewegen, wußte jedoch nicht so recht was. Dann erinnerte sie sich an ihre Jugendträume. Schon immer hatte sie sich für Literatur und Philosophie interessiert und hätte auch schon gerne als junger Mensch studiert, doch irgendwie kam immer etwas dazwischen.
Für Ruheständler wie Ingrid, die immer schon bestimmte Fächer studieren wollten, allerdings aus den unterschiedlichsten Gründen keine Möglichkeit hatten, ihren Traum zu erfüllen, bieten etwa 50 Hochschulen das Seniorenstudium an. Ein Abitur ist für den Status als Gasthörer nicht notwendig. Kunstgeschichte, Geschichte, Literatur, Philosophie und Theologie sind die Lieblingsfächer der älteren Semester. Die Universität wird meist zur individuellen Weiterbildung genutzt, ohne ein bestimmtes Ziel, sprich einen Abschluß, erreichen zu müssen. Der Senior besucht die Universität nach Belieben, lernt häufig auch mit jüngeren Studenten zusammen, ist diesen aber insoweit voraus, als er alle Vorlesungen, die er besucht, freiwillig anhört, und nicht aus Zwang, da man den damit verbundenen Schein ja nicht benötigt.
Ingrid sieht hingegen die Klausuren und Hausarbeiten als Herausforderung. Sie will den Magister-Abschluß, will ein Ziel, daß sie erreichen kann. Das Studium im Alter hält den Geist rege, eröffnet ihr neue Bereiche. "Was soll ich alleine in meiner Wohnung versauern. An der Universität bin ich unter Menschen und lerne ständig interessante neue Dinge dazu", erklärt Ingrid ihr für ihr Alter etwas ungewöhnliches Engagement.
Wer Interesse an einem Studium im Alter hat, sollte wissen, daß viele Universitäten zwar Seniorenstudiengänge anbieten, doch jede Hochschule wickelt diese anders ab. Zudem sind die Senioren auch unterschiedlich in den Universitätsbetrieb integriert. Die Zusammenarbeit von alt und jung ist allerdings überall noch ausbaufähig, denn es wird häufig übersehen, daß die jungen Vollzeitstudenten von den "jungen Alten" viel lernen können, denn die haben die Berufspraxis schon durchlebt.
Wer gerne auch noch als Ruheständler die Bibliotheken nach Wissen durchstöbern und in Hörsälen Professoren lauschen will, wende sich bitte an die Universität in seiner Nähe. Fritz Hegelmann
Alter schützt vor Bildung nicht: Senioren hören aufmerksam zu, was der Dozent an der Universität zu sagen hat Foto: Hochschule Schwäbisch-Gmün |
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