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In der vielzitierten Berliner Depression bündelt sich eine nationale Misere, nicht zuletzt eine demographische. Gegenwärtig zählt die Stadt circa 3,3 Millionen Einwohner. Die Bevölkerung kann sich, wie die anderer Großstädte, nicht genügend reproduzieren. Der rasante Bevölkerungszuwachs Berlins im 19. und frühen 20. Jahrhundert speiste sich vor allem aus Überschüssen der östlichen Provinzen. Diese stehen nun unter ausländischer Verwaltung - im übrigen Deutschland stagnieren die Bevölkerungszahlen. Das Berliner Umland im näheren und weiteren Sinne - Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern - ist traditionell sehr dünn besiedelt. Im Umkreis von 100 Kilometern zählen nur Potsdam und Cottbus mehr als 100.000 Einwohner.
Ausgehend von diesen Zahlen hat der Wirtschaftswissenschaftler Meinhard Miegel in seinem Bestseller "Die deformierte Gesellschaft" drei Optionen für Berlin entworfen. Die erste lautet, daß Berlin dem Trend des Umlands folgt und in den nächsten 40 Jahren jährlich 15.000 Einwohner durch Sterbeüberschuß verliert. Dann hätte die Stadt 2040 noch rund 2,7 Millionen Einwohner, bei verminderter Bevölkerungsdichte im Umland.
Die zweite Option wäre, daß Berlin sich gegenläufig zum Trend entwickelt und junge Menschen an sich zieht. Diese würden im Umland fehlen, es würde personell ausbluten. Der demographische Negativ-Effekt könnte kompensiert werden, indem Berlin eine besondere Kreativität und Produktivkraft freisetzt und sich als Lokomotive für das Umland betätigt, wofür zur Zeit wenig spricht. Mit dem forcierten Ausbau der Metropole würde man den neuen Ländern vermutlich also einen Bärendienst erweisen. Die dritte Alternative wäre ein Bevölkerungszustrom aus dem europäischen und außereuropäischen Ausland. Dann würde der Ausländeranteil schnell von einem Achtel auf ein Drittel emporschnellen. Es ist klar, daß der schon jetzt zu beobachtende Trend zur Ghettobildung sich beschleunigen würde. Um die Stadt funktionstüchtig zu halten und soziale Spannungen zu mildern, wären enorme Transferleistungen nötig, bei gleichzeitiger Entfremdung zwischen Deutsch-land und seiner Hauptstadt. Man würde sich außerhalb Berlins fragen, welchen Sinn seine Subventionierung unter diesen Umständen haben soll.
Meinhard Miegel zeigt der Politik zwei Möglichkeiten aktiver Gestaltung auf: Das nördliche Mitteldeutschland könnte als ausgedehntes, wenig besiedeltes, und vor allem naturbelassenes Territorium ausgewiesen werden, das gleichsam aus der Zeit fällt und der Regeneration und Erholung dient. Etwas ähnliches hatte der Ostberliner Soziologe Wolfgang Engler einst vorgeschlagen. Dann aber könnte der Grundsatz gleicher Lebensverhältnisse in Deutschland wegen überbordender Transferleistungen nicht aufrechterhalten werden. Außerdem würde sich die Hauptstadt im stillsten Winkel des Landes wiederfinden, die Kraftströme der Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft würden woanders fließen.
Als bessere Möglichkeit empfielt er, Berlin allmählich und planvoll auf die Größe Hamburgs, also auf fast die Hälfte seiner heutigen Einwohnerzahl, zurückzuführen. Gleichzeitig müßten im Umland zehn bis zwölf mittlere Städte von großer Attraktivität gefördert werden, die Arbeitsplätze, gute Umwelt- und Lebensbedingungen sowie exzellente Bildung und Kultur zur Verfügung stellen. Miegel nennt keine Namen, zu denken wäre wohl an Cottbus, Frankfurt an der Oder, Greifswald, Potsdam, Magdeburg, Neubrandenburg, Rostock, Schwerin, Stralsund. Vor kurzem hat das Berliner Abgeordnetenhaus eine Enquetekommission zur Zukunft der Stadt eingesetzt, in der allgemeine Ratlosigkeit herrscht. Vielleicht sollte sie Meinhard Miegel um Rat fragen.
Ein Balanceakt: Wie Berlin in einigen Jahren dasteht, hängt auch von der Bevölkerungsentwicklung der Spreemetropole ab. Zur Zeit verliert die Stadt monatlich Einwohner und das, obwohl sie bei Zuzüglern nach wie vor beliebt ist. Welchen Weg Berlin langfristig nimmt, bleibt angesichts der bundesweit zurückgehenden Bevölkerung völlig offen. Foto: Bilderberg
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