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Deutschlehrer M. lief zornrot an. Daß es in der Sowjetunion Konzentrationslager und psychatrische Haftanstalten gebe, sei eine Lüge, ja es sei "gefährlich für den Frieden", so etwas zu behaupten. KZs habe es nur bei den Nazis gegeben, basta. Ich hatte offenkundig in ein Wespennest gestochen.
Es waren die frühen 80er Jahre. Der Verfasser dieser Zeilen, Jahrgang 1965, stand wie alle Altersgenossen am Gymnasium mitten in den Debatten um die (wie sich Jahre später herausstellen sollte) letzte große Schlacht des Kalten Krieg es. Alles drehte sich um Nato-Doppelbeschluß, Friedensbewegung und Nachrüstung.
Linke Lehrerschaft und gleichgesinnte Schüler waren vor allem darum bemüht, jedwede Diskussion um den Charakter der kommunistischen Systeme aus der Kontroverse herauszuhalten. Allein um die "Nato-Hochrüstung" hatte es zu gehen. Für Menschenrechte galt es anderwärts zu kämpfen. Chile und Südafrika vor allem standen am Pranger. Und natürlich die NS-Dik- tatur und ihre "unzureichende Aufarbeitung". Der nur 28 Kilometer vom Schulgebäude entfernte innerdeutsche Todesstreifen mit Schießbefehl? kein Thema.
In hehrer Pose warfen sich "engagierte" Pädagogen und strebsame Mitschüler auf die NS-Vergangenheitsbewältigung und prangerten die Ignoranz an, mit welcher die Deutschen jene finstere Zeit der Diktatur verdrängt hätten. Derweil verdrängten sie die real existierende, zeitgenössische Diktatur, die nur ein paar Dörfer weiter begann, um so gründlicher.
Wenn ein Systemvergleich doch nicht zu umgehen war, hieß das Rezept Begriffsverwirrung. Geschlossene Psychatrien gebe es schließlich auch im Westen, konterte Lehrer P. den Hinweis auf jene Terroranstalten des Ostblocks, in welchen Regimegegner systematisch in den Wahnsinn getrieben wurden. Und die DDR, durfte Lehrerin D. berichten, sei eben eine "andere Art von Demokratie", die müsse man bitteschön akzeptieren.
Für Kritiker von derlei Verdrängung und Lüge lag eine griffiges Repertoire an Schmähungen bereit. In diesen, von (manchmal hysterisch ausartender) Atomkriegsangst geprägten Jahren schien der des "Kriegstreibers" am wirksamsten. Wer also die Verbrechen der SED, ja das Verbrechen der Teilung Deutschland überhaupt anzuprangern gedachte, gefährdete den Frieden und zwar bewußt und mit Vorsatz, weshalb man ihn guten Gewissens in die Ecke des Unmenschen stellen durfte. Das machte den Heranwachsenden natürlich Spaß: Es verlieh ihrer kleinen Existenz mit einem Male eine enorme Bedeutung als Kämpfer gegen das Böse schlechthin, das ihnen überdies in Person der kriegstreiberischen Antikommunisten, der "Kalten Krieger" unmittelbar zur Verfügung stand.
Alles heimliche Komplizen des SED-Staates oder Honeckers nützliche Idioten? Von Agenten gesteuert gar? Das schien mir damals denn doch ein wenig zu grobkörnig gedacht trotz der unübersehbaren Doppelmoral, die mich zutiefst anwiderte, aber letztlich statt Wut eher Ratlosigkeit hinterlassen sollte.
Seit Ende der DDR und den ersten Stasi-Enthüllungen reifte indes die Gewißheit, daß jene "grobkörnige" Analyse des ganzen Spuks so ziemlich ins Schwarze traf. Hubertus Knabe resümiert diesen deutsch-deutschen Skandal und macht ihn an einer Fülle von Einzelbeispielen manifest.
Nach 1983 flaute die "Friedensbewegung" rasch ab. Doch jetzt ging es für die Genossen ums Ganze: die DDR schlitterte zunehmend in eine existenzbedrohende Krise. Die Desinformations-Kader der SED richteten ihre Rohre von nun an auf Wiedervereinigungsbefürworter, und zahllose Westdeutsche waren abermals mit ihnen.
Kurz nur keimte 1989/90 die Hoffnung, daß endgültig Schluß sei mit Lug und Trug, gehüllt in moralischen Schleim. Der Optimismus dieser hellen Tage aber verflog schnell, die Vorstellung ging und geht weiter. Nur die Begriffe haben sich gewandelt. Nicht Kriegstreiber sondern "geistiger Brandstifter", nicht Friedens-, sondern Fremdenfeind lauten die Totschlagvokabeln seit zehn Jahren. Und nicht bloß die Fronten, sogar die einzelnen Akteure sind oftmals dieselben geblieben.
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