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Wenn nur das mit der Arbeitslosigkeit nicht wär, wär alles wunderbar!" Daß fast jeder fünfte Leipziger ohne Stelle ist, liegt nicht nur Taxifahrer Werner Treitsch auf dem Magen. Die hohe Erwerbslosigkeit trübt vielen die Freude über das strahlende neue Antlitz der alten Messestadt.
Nach außen läßt sich die stolze Stadt jedoch wenig anmerken von ihren Problemen. Wer - aus dem Westen Deutschlands kommend, die festgezurrten Medienklischees vom grauen, hoffnungslosen Mitteldeutschland im Kopf - die westsächsische Metropole betritt, ist gründlich überrascht.
Da ist allein schon der legendäre Bahnhof, der größte seiner Art in Europa und in Deutschland sowieso. Majestätisch wölben sich fünf Tonnendächer und zwei Seitenschiffe über 26 Gleise. Am Kopfende folgt die gewaltige, von hell leuchtenden Sandsteinbögen überragte Querachse, in deren Tiefe die vom Oberlicht durchflutete Laden- und Gastronomiepassage die klassische Eleganz des Gründerzeit baus mit moderner Weltläufigkeit verknüpft.
Die beiden Ausgänge zur Innenstadt führen den Besucher durch gigantische Hallen, deren ehrfurchteinflößend hohe Tonnendächer von neoklassizistischen Kassettendecken verziert sind. Auch hier strahlt der Komplex trotz aller Monumentalität heitere Leichtigkeit aus. Von überall scheint reichlich Licht herein, das vom frisch renovierten Sandstein zurück in den Raum geworfen wird. Von der Stadtseite her wirkt der Bau dabei vergleichsweise bescheiden. Wer von dort aus den Bahnhof das erste Mal betritt, ahnt gar nicht, was ihn drinnen erwartet.
Beim Fußgang in die Innenstadt setzt sich die Atmosphäre von neu erwecktem alten Glanz und jugendlicher Dynamik fort. In den ehrwürdigen Gebäuden hat sich eine frische Szene aus Restaurants, Kneipen und Cafés etabliert. Das Gros der Besucher ist zwischen zwanzig und vierzig, dem Eindruck nach überwiegend Studenten, junge Geschäftsleute und Akademiker in dezentem Schick und der gelassenen Beiläufigkeit mondäner Großstadtmenschen.
Das Zentrum besticht durch den schnellen Wechsel großer architektonischer Gestik und kleingegliederter, romantischer Winkel. In der berühmten Mädlerpassage findet sich beides vereint. (Übrigens: Ein Besuch in dem unter der Passage verborgenen "Auerbachs Keller", den Goethe im "Faust" zum nationalen Kulturgut machte, lohnt sich auch für den kostenbewußten Reisenden. Nur nicht vom großen Namen schrecken lassen: Eine gediegene deutsche Mahlzeit gibt es mit Getränk auch schon für rund 13 Euro.)
Passage und Kellerlokal sind heute mit einem Namen verbunden, der Mitte der 90er Jahre bundesweit für Skandalstimmung sorgte: Dr. Jürgen Schneider. Der Baulöwe legte damals die größte Pleite hin, die je ein einzelner deutscher Kaufmann zustande brachte. Zum Ende lasteten Kredite von über fünf Milliarden Mark bei 55 verschiedenen Banken auf seinem Imperium. Dann das abenteuerliche Finale: Zusammenbruch, Flucht in die USA 1994, Verhaftung 1996. Offene Handwerker-Rechnungen über 50 Millionen Mark brachen zahlreichen Kleinbetrieben das Genick, etliche retteten sich nur mit Ach und Krach.
Der Name Jürgen Schneider klingt seitdem nach Hasardeur, nach größenwahnsinnigem Hallodri. Nicht so in Leipzig: Über 60 Immobilien hatte er hier. Wie die Mädlerpassage kaufte er alte, denkmalgeschützte Bauten in Reihe und ließ sie aufwendig instandsetzen. Dafür mögen ihn die Leipziger noch heute. Ja ja, die Kredite, doch: Manches wäre ohne den Finanzjongleur mit der Liebe zum Alten für immer verloren gewesen, betonen die Messestädter zu seiner Verteidigung. So wie Barthels Hof, ein Gänge-Ensemble im Renaissancestil nahe dem Alten Rathaus - eine Ruine, bevor Schneider satte 147 Millionen Mark investierte.
Als der Milliarden-Bankrotteur frisch aus dem Gefängnis im März 2000 den Leipzigern seine zur Buchmesse erschienenen Memoiren vorstellte, umarmte ihn voller Dankbarkeit eine alte Frau, die im Barthels Hof wohnt. 1.000 Leipziger empfingen Schneider damals wie den Retter ihrer Stadt.
Gleich neben dem Alten Rathaus findet sich auch das barocke, an seinem Weltruhm gemessen erstaunlich kleine Alte Gewandhaus. Die Musik spielt indes längst im Neubau am Rande der Innenstadt - musikalisch ein Musentempel von globalem Rang, architektonisch leider ein modernistisches Monstrum.
Die deutsche Geschichte begegnet dem Besucher in der nur rund 1.000 Meter Durchmesser umfassenden Innenstadt auf Schritt und Tritt: So Bachs Wirkungsstätte, die Thomaskirche, oder die Nikolaikirche, das Epizentrum der deutschen Revolution von 1989. Dort erzählt auch eine sehenswerte kleine Ausstellung vom Werden einer Bewegung, die - mit bescheidenen Zielen beginnend - Weltgeschichte schreiben sollte.
Von der düsteren Zeit, aus der die mutigen Bewohner der "Heldenstadt" damals ausbrachen, erzählt das "Museum in der Runden Ecke". Es ist das Gebäude der ehemaligen Bezirkszentrale der berüchtigten kommunistischen Geheimpolizei, der Stasi. Mit großem Einsatz haben die Opfer des roten Wahns hier die Utensilien ihrer Unterdrücker zusammengetragen. Vom Verkleidungskoffer mit Perücken, Schminke etc. für verdeckte Beobachter, von Abhöranlagen und versteckten Kameras bis zur Maschine zum spurenlosen Öffnen und Verschließen von Briefen. Manches ist so bizarr, daß sich Museumsgäste kaum ein Lächeln verkneifen können. Anderes erscheint einfach nur mickrig und schäbig, wie das komplett erhaltene Büro eines Stasi-Sachbearbeiters. Ein schummriges, fensterloses Räumchen, in dem es noch immer nach jenem DDR-typischen Reinigungsmittel müffelt, das Westdeutsche meist nur aus den Interzonenzügen im Gedächtnis haben. Hier saßen die Typen, denen Paranoia und Menschenverachtung zum Beruf geworden war.
Wo ihre Opfer landeten, wird ein Zimmer weiter gezeigt. Aus Beständen des in der Nähe gelegenen Stasi-Gefängnisses haben die Museumsmacher eine Originalzelle nachgebaut. Spätestens hier erstarrt auch dem Unbedarftesten das Grinsen über den ganzen elenden Geheimdienst-Schnickschnack. Die kalte Tristesse der Zelle läßt Leid und Verzweiflung lebendig werden. Hier wurden unschuldige Menschen gebrochen, Biographien verwüstet. Wie viele in dieser Mühle ihr Leben ganz ließen, wird wohl nie völlig geklärt werden können.
Wieder ins quirlige Stadtleben eingetaucht, wirken die Eindrücke aus der Requisitenkammer einer finsteren Diktatur beinahe irreal. Das soll hier gewesen sein, vor erst gut einem Dutzend Jahren? Die Bilder passen einfach nicht zusammen. Stadt im Aufbruch! Zukunftsregion mit großer Vergangenheit! Das sind Vokabeln, die dem Besucher viel eher durch den Kopf schießen wollen.
Gewiß, es gibt sie noch, die Relikte der von der eigenen Bevölkerung hinweggefegten DDR. Ausgedehnte Industriebrachen mit den Ruinen der Betriebe, die, im Sozialismus unwirtschaftlich geworden, die Nachwendezeit nicht überstanden, oder die Plattenbautürme ("Arbeiterschließfächer"). Doch auch hier schreitet die Sanierung voran, so daß sich die "Platte" wenigstens nicht mehr von ihren westdeutschen Pendants aus den 60er und 70er Jahren unterscheidet.
Alte Arbeiterquartiere aus der Zeit der Jahrhundertwende treten mehr und mehr ins Visier findiger Investoren. Block für Block wird wiederhergerichtet, und es kommt zum Vorschein, mit welcher Detailverliebtheit zu Kaisers Zeiten selbst solche "Proleten-Siedlungen" wie Leipzig-Plagwitz gestaltet wurden. Ja, man erlangt eine Ahnung davon, wie mächtig dies Leipzig einmal war - nach Berlin und Hamburg rangierte es um 1900 mit rund 700.000 Einwohnern auf Platz drei der deutschen Städte. Erbe dieser glorreichen Epoche ist unter anderem das umfangreichste zusammenhängende Gründerzeitviertel Deutschlands.
Zu DDR-Zeiten noch weit über eine halbe Million Einwohner zählt die Messemetropole heute nur noch gut 470.000 Seelen. Hier schlägt sich eine Entwicklung nieder, die allen mitteldeutschen Städten und Regionen schwer zu schaffen macht: Viele Bewohner, vor allem junge, ziehen weg. Es bahnt sich ein Wettlauf an zwischen dem Wiederaufbau, der die Bevölkerung halten soll, und der Massenabwanderung. Wer Leipzig gesehen hat, sieht jedoch beste Chancen, daß diese kraftvolle Metropole den Wettlauf gewinnen und bald wieder mehr Menschen anziehen wird, als sie derzeit noch verliert.
Fototexte: Zeugnis aus der Zeit, als Leipzig die drittgrößte Stadt Deutschlands war: Der majestätische Hauptbahnhof mit der neuen Passage im Untergeschoß. Er ist der größte Sackbahnhof Europas.
Hier erinnert nichts mehr an graue DDR-Zeiten: Barfußgäßchen mit Kneipenmeile "Drallewatsch". Im Hintergrund geht der Blick auf einen Teil des Alten Rathauses |
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