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Am 25. Januar eines jeden Jahres ist für geschichtskundige Deutsche Canossa-Tag: Sie erinnern sich der Selbstdemütigung des deutschen Königs Heinrich IV. vor Papst Gregor VII., die am 25. Januar vor 930 Jahren begann und drei Tage währte. Nach dem Verständnis der damaligen Christenheit konnte der vom Papst exkommunizierte, gebannte und abgesetzte König nur so seinen Thron retten.
Bismarck spielte auf dieses Ereignis des Investiturstreites an, als er am 14. Mai 1872 im beginnenden Kulturkampf in einer Reichstagsdebatte ausrief: "Seien Sie außer Sorge: Nach Canossa gehen wir nicht - weder körperlich noch geistig!" Indem der Reichskanzler das Canossa-Ereignis für seine Auseinandersetzung mit der Zentrumspartei und der katholischen Kirche in Preußen und im Reich instrumentalisierte, löste er viel Zustimmung, aber auch negative Nachwirkungen aus, die bis heute nicht ganz abgeklungen sind.
Noch 1872 wurde eine Gedenkmünze geprägt: Bismarck auf der Vorderseite als Verteidiger der neuen Kaiserherrschaft, auf der Rückseite eine Germania, die mit Schwert und Bibel gegen den Papst mit seiner Bannbulle kämpft, dazu die Devise: "Nicht nach Canossa!" 1877 wurde an der Stelle der früheren Harzburg Heinrichs IV. eine Canossa-Säule mit dem Porträt des Kanzlers und seinem Ausspruch (der bald schon zu einem geflügelten Wort wurde) errichtet. Bismarck hatte sein Einverständnis gegeben: "Ich sehe in diesem Vorhaben eine neue Bekundung des Einverständnisses und der Unterstützung der Abwehr der Übergriffe, mit welchen noch heute deutsches Leben von römischer Herrschaft bedroht wird."
Als Bismarck 1871 aus dem Deutsch-Französischen Krieg zurückkehrte, fühlte er sich durch die Formierung der Zentrumspartei ungeheuer provoziert. Diese politische Kraft wollte im protestantisch geprägten neuen Kaiserreich und dem ähnlich strukturierten Preußen die Interessen des katholischen Volksteils mit dem Ziel konfessioneller Parität vertreten. Da Bismarck das 1870 proklamierte päpstliche Unfehlbarkeitsdogma mißverstand, fürchtete er, Papst Pius IX. werde die Zentrumspartei fernsteuern mit dem Ziel, das mühsam geschaffene Deutsche Reich zu zerstören. Daher verbündete sich Bismarck mit den Liberalen, um die vermeintlich drohende "Priesterherrschaft" zu verhindern.
Die Liberalen ganz Europas hatte Pius IX. gegen sich aufgebracht, als er 1864 im "Syllabus errorum" 80 "Zeitirrtümer" verurteilte und damit alles, was die Liberalen als neuzeitlich-modern ansahen, verdammte. Nach der Verkündung des Unfehlbarkeitsdogmas sahen die Liberalen nun Bischöfe, Priester und Ordensleute als willenlose Werkzeuge eines Herrschsüchtigen in Rom, die in des Papstes Auftrag die Gewissen der Gläubigen knebelten. Der Erfinder des Schlagwortes "Kulturkampf", der liberale Politiker und weltberühmte Naturwissenschaftler Virchow, forderte daher die Unterordnung der Kirche unter den Staat als eine Notwendigkeit, wenn die moderne Zivilisation und Kultur vor der Zerstörung durch kirchliche Dunkelmänner bewahrt werden sollten.
Durch Gesetze und Verordnungen im Reich und in den Ländern, durch heftige juristische und administrative Verfolgung sowie durch einen vehementen Propagandakrieg wurde dieser Kulturkampf betrieben. Dabei erlitt die Seelsorge der katholischen Kirche schwere Schäden. So war etwa 1881 die kirchliche Organisation Preußens in starkem Maße zerfallen. Bischöfe waren im Gefängnis oder im Exil, viele Priester inhaftiert oder des Landes verwiesen, 601 Pfarren mit 1,5 Millionen Katholiken gänzlich verwaist und 1225 von 4627 Pfarreien ohne Pfarrer. 645 Kapläne fehlten. Der durch Polizisten vom Altar geholte Priester, der Gläubige, der keine Sonntagsmesse mitfeiern konnte, der Sterbende, der vergeblich nach den Sakramenten verlangte - solche Pseudo-Erfolge erzielte die kulturkämpferische Beamtenschaft.
Aber Bismarck hatte derartiges nicht gewollt. Ihm ging es um die Niederwerfung der "ultramontanen" Partei (ultra montes = jenseits der Berge, also der Alpen; auf den römischen Papst hin orientiert), um die Zurückdrängung der "Priesterherrschaft". Eingetreten war das Gegenteil: Das Zentrum wurde durch erbitterte Katholiken in den Wahlen gewaltig gestärkt, viele Gläubige waren fanatisiert, der Staat triumphierte mit seiner Machtfülle nur äußerlich. Zwar erfolgte eine Neufestlegung der Grenzen von Kirche und Staat im Sinne des alten Staatskirchentums, aber von Klerus und Kirchenvolk wurde sie nicht akzeptiert.
Der kluge Realpolitiker Bismarck machte sich also Gedanken über eine Kursänderung. Eine solche war deshalb schwer durchsetzbar, weil auch die kirchliche Seite wiederholt unklug agiert und reagiert hatte. So hatte etwa Pius XI. am dritten Jahrestag der Reichsgründung, dem 18. Januar 1874, deutschen Rompilgern dargelegt: "Bismarck ist die Schlange im Paradies der Menschheit. Durch diese Schlange wird das deutsche Volk verführt, mehr sein zu wollen als Gott selbst, und dieser Selbstüberhebung wird eine Erniedrigung folgen, wie noch kein Volk sie hat kosten müssen. Nicht Wir, nur der Ewige weiß, ob nicht das Sandkorn an den Bergen der ewigen Vergeltung sich schon gelöst hat, das, im Niedergange zum Bergsturz wachsend, in einigen Jahren an die tönernen Füße dieses Reiches anrennen und es in Trümmer wandeln wird; dieses Reich, das wie der Turm zu Babel Gott zum Trotze errichtet wurde und zur Verherrlichung Gottes vergehen wird."
Erst unter dem Nachfolger, Leo XIII., war an einen allmählichen Abbau der Kulturkampfmaßnahmen zu denken. Bismarck ging keineswegs nach Canossa, aber er nahm vom Papst den Christusorden entgegen. Unter Wilhelm II. söhnten sich dann die reichsdeutschen Katholiken immer mehr mit dem Hohenzollernstaat aus, wollten durch eine betont patriotische Haltung die kulturkämpferischen Parolen von den national unzuverlässigen "Ultramontanen" Lügen strafen. Bei einer Minderheit von Katholiken aber wurde als Folge der schlimmen Kulturkampferfahrungen zumindest ein antipreußischer Affekt, wenn nicht gar Haß auf Preußen und auf "Preußen-Deutschland", von Generation zu Generation weitergegeben.
Canossa-Tag und Bismarcks geflügeltes Wort - sie verweisen auf ein deutsches Verhängnis, das bis heute noch ni |
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