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Die Wahrheit sei "langsam und komme erst allmählich zur Sprache". Hans-Georg Gadamer nahm sich viel Zeit für das Ereignis Wahrheit. Unaufgeregt widersetzte er sich dem hektischen Machtanspruch der reinen Vernunft, den hybriden Erwartungen der Informationsgesellschaft, mit geistesaristokratischer Zurückhaltung deckte er die Bodenlosigkeit des modernen Subjektivismus auf: "Das ist menschliches Sein, sich im Deuten des Vieldeutigen zu verstricken." Es gebe wohl stets "mehr Sein als Bewußtsein", unser menschliches Erkennen sei begrenzt und von Vorurteilen geprägt.
Gadamer ging es um die "Freilegung der Wahrheitsfrage". Er hat in seiner "philosophischen Hermeneutik" das menschliche Dasein unter dem Gesichtspunkt des Verstehens beschrieben und gezeigt, daß vieles, was wir als "erkennen" oder "handeln" beschreiben, umfassender als Verstehen bezeichnet werden muß.
Mitte voriger Woche ist der deutsche Philosoph mit Weltgeltung im Alter von 102 Jahren gestorben. Gadamer war dem 20. Jahrhundert, das er auf seinem Lebens- und Denkweg vollständig durchmessen hat, in distanzierter Gelassenheit gegenübergetreten. Er hatte einmal gesagt: "Ich wünsche mir, nicht älter zu werden, als mein Verstand reicht." Ein Leben ist zu Ende gegangen, das irdisches Maß sprengte.
Unser Verstehen bewegt sich in einem Zirkel: zwischen den eigenen Vorurteilen und der jeweiligen Andersheit. Verstehen ist immer - weil Interpret und fremder Sinn in ihre eigene Zeit eingebunden sind - ein "wirkungsgeschichtlicher Vorgang" und vollzieht sich als "Horizontverschmelzung". In Gadamers Konzeption ist der Zeitabstand nicht mehr ein "Abgrund, der überbrückt werden muß, weil er trennt", sondern die positive Möglichkeit des Verstehens, der tragende Grund unseres Daseins.
Trotz seines zehn Bände umfassenden Gesamtwerks war Gadamer ein Philosoph, der dem Schreiben das lebendige Gespräch, die Lehre vorzog. "Meine Schüler haben mir immer versichert, das Wichtigste sei nicht meine Vorlesung gewesen, sondern nachher das Gespräch bei einem Wein in einer Weinstube." Als akademischer Lehrer wollte er eine vertiefte Art von Selbsterfahrung und Lebenserfahrung vermitteln. Es fehlt in seinem Werk jeder Dogmatismus. Er wollte sich nicht mit begrifflicher Gewalt die Welt aneignen, sondern sie verstehen lernen und lehren. Hans-Georg Gadamer, ein Mann von noblem Wesen und imponierendem bildungsbürgerlichen Habitus, lehrte an den Universitäten Marburg, Leipzig, Frankfurt am Main und Heidelberg. Dort wurde er 1968 emeritiert. Er lebte bis zu seinem Tode in Heidelberg. Wer diesen vornehmen Repräsentanten der deutschen Universität im Hörsaal, auf Tagungen, in Vorträgen erleben durfte, wird bestätigen, daß Gadamer nicht nur eine ungewöhnliche rhetorische Begabung zu eigen war, sondern daß er zuhören konnte. Er entwickelte Vorträge aus einem Zettel mit Stichworten. Nicht selten sprach er frei, liebte die Abschweifung.
Der klassische Urbanität ausstrahlende Herr war stets an Austausch, Dialog, Erkenntnisgewinn interessiert. Aus dem Reichtum europäischer Bildung schöpfend, stand Gadamer für die Konti- nuität einer Philosophie, die sich in Rivalität zur naturwissenschaftlichen Methode um eine Autonomie der Geisteswissenschaft bemühte. Für ihn erschloß sich die Welt, trotz aller Dominanz von Wissenschaft und Technik, in erster Linie im Medium der lebendigen Sprache. Gadamer vermittelte die Erfahrung, daß es in den Geisteswissenschaften eine exakte Methode nicht geben könne, weil jede Auslegung eines fremden Sinns immer eine menschliche Selbstauslegung sei. Er begriff Philosophieren als Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen. Das Erschließen von Sinn aus der abendländischen Tradition spielte eine zentrale Rolle. Gadamer verkörperte die alte Universität. Für ihn war Tradition noch etwas, was eine unersetzbare Prägekraft besitzt. Am Ende seines Lebens allerdings wirkte er, auf den Kanon unserer Bildung und damit die Zukunft unseres abendländischen Verstandes angesprochen, pessimistisch. Er bekannte sich zu einer Denkform, in der "mit der Möglichkeit gerechnet wird, daß die wahre Ordnung der Dinge nicht heute ist oder einst sein wird, sondern ehedem gewesen ist, und daß ebenso die Erkenntnis von heute oder morgen die Wahrheiten nicht erreicht, die ehedem einmal gewußt waren".
Am 11. Februar 1900 als Sohn eines Professors der pharmazeutischen Chemie in Marburg geboren, wuchs Hans-Georg Gadamer in Breslau auf. Sein Vater hatte ihn davor gewarnt, sich der "Schwätz-wissenschaft" zuzuwenden. Gadamer studierte gleichwohl an den Universitäten Breslau, Marburg, München und Freiburg Philosophie, Germanistik, Geschichte, Kunstgeschichte, ab 1924 auch klassische Philologie. 1922 ging er nach Marburg zu Nicolai Hartmann, schrieb seine Dissertation bei Paul Natorp. 1927 legte er die Staatsprüfung für das höhere Lehramt ab. Nach seiner Habilitation 1929 bei Martin Heidegger mit einer Arbeit über "Platos dialektische Ethik" begann seine akademische Laufbahn. Gadamer selbst hat in seinen Erinnerungen "Philosophische Lehrjahre" seine Begegnung mit Heidegger als ein "elementares Ereignis" geschildert. Während der Zeit des Nationalsozialismus (1938 erhielt Gadamer eine Berufung auf das philosophische Ordinariat in Leipzig) brach er eine größere Studie über sophistische und platonische Staatslehre "vorsichtshalber" ab; nur Teilaspekte wurden publiziert. Nach Kriegsende wurde er Rektor der Universität Leipzig, folgte im Herbst 1947 einem Ruf nach Frankfurt/Main. Nach dem Weggang von Karl Jaspers aus Heidelberg 1949 übernahm Gadamer dessen Lehrstuhl für Philosophie. Vergleichsweise spät, erst 1960, erschien nach zehnjähriger Vorarbeit das unerschöpfliche Buch "Wahrheit und Methode". P. D. |
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