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Der Platz vor dem Hauptbahnhof des heutigen Königsberg überrascht den ankommenden Reisenden - hat er doch die Vorstellung der totalen Veränderung dieser Stadt. Scheinbar fast unversehrt hat der heute von den Russen "Südbahnhof" genannte Bahnhof das Kriegsende nach den schreck-lichen, wochenlangen Kämpfen um die ostdeutsche Hauptstadt überstanden. Schon bei Ankunft des Zuges zeigt sich die Halle in ihrem von früher her bekannten Zustand. Merkwürdigerweise wirkt sie ungeheuer geräumig - ganz vereinzelt sind Züge sichtbar, ein knallroter Dieseltriebwagenzug verläßt unter ohrenbetäubendem Getöse und Gestank die Halle. Treppab von Bahnsteig 6, wie früher unter den Bahnsteigen der lange Weg zur Empfangshalle - typische Architekt ur der zwanziger Jahre - man erinnert sich, es ist alles an seinem Platz, scheint es jedenfalls: Fahrkartenschalter, Toiletten, Wartesaal! Auch die Außenfront weist nur geringe Veränderungen auf. Der Bahnhof, von 1915 bis 1929 erbaut, galt damals als einer der modernsten in Europa. Linker Hand die Post, alles in Klinkerarchitektur, rechts die Straßenbahnhaltestellen, scheinbar kaum verändert, doch vor dem Platz steht nach wie vor das Denkmal des Mannes, dessen Namen die Stadt im offiziellen russischen Sprachgebrauch heute noch trägt: Michail Kalinin - Handlanger Stalins und mitschuldig an den Verbrechen von Katyn.
Königsberg - von den Sowjets am 4. Juli 1946 in "Kaliningrad" umbenannt - ist eine neue Stadt geworden, und hat in seinem Kern nichts mehr mit dem alten Königsberg zu tun. In den Außenbezirken erinnern noch eine Reihe von Bauten an die Zeit vor dem Kriege. Die Zahl der Einwohner schätzt man heute auf ungefähr 450.000, fast 80.000 mehr als 1939. Das Königsberger Gebiet hat heute circa 900.000 zivile Einwohner und ursprünglich 200.000 Mann Militär mit heute stark fallender Tendenz. Das Gebiet ist etwa so groß wie Schleswig-Holstein und hat aus sowjetischer Zeit eine vielfach zwangsweise aus allen Gebieten der damaligen Sowjet-union angesie- delte Bevölkerung; es ist ein Schmelztiegel Angehöriger aller Gebiete der ehemaligen Sowjetunion. In der Regel haben die hier lebenden Menschen keinerlei Beziehungen zu diesem Land, das daniederliegt und verfällt. Die Böden sind versauert, die Dörfer verkommen und die Städte teilweise bis zur Unkenntlichkeit entstellt - wie diese Stadt, die mit ihrem Bahnhof noch alte Zeugnisse besitzt und die mit ihrer nach 1945 neu errichteten Innenstadt heute ein städtebauliches Nichts darstellt und damit ganz sicher in Europa ohne Beispiel ist.
Direkt vor uns ein überfüllter Parkplatz, erstaunlich viele Autos. Deutschlands Gebrauchtwagenhändler scheinen hier gute Geschäfte zu machen. Ein Kleinbus wird bestiegen. Im Frühjahr waren wir hier eine Männer-Crew, fünf an der Zahl - später im Sommer holte Wassili mich ab und im Herbst Juri, der pensionierte Oberstleutnant der Raketentruppen, der sich jetzt ganz dem Tourismus gewidmet hat. Und heute ist es fast schon Gewohnheit geworden, in meine Stadt zu kommen, in der ich geboren und aufgewachsen bin. Immer wieder entdecke ich sie und das Land drum herum neu, mit der Kamera stets im Anschlag, ein unglaubliches Abenteuer! Am Anfang war es Irina, die uns zugeteilte Reiseleiterin. Sie gibt dem Fahrer die Richtung an: Reichsbahnbrücke, dann Holsteiner Damm. Aus meinen ersten Besuchen kenne ich die heutige Strecke, die nördlich des Hafens vorbeigeht - wenngleich ich immer noch nicht herausgefunden habe, warum man nicht an der alten Walzmühle vorbei am Pregel entlang bis zum Schloß Holstein fahren kann. Wir versuchen den kleinen Umweg zu unserem Hotel, doch es geht nicht. Die Straße löst sich sehr bald im Nichts auf. Der Holsteiner Damm ist wie abgehackt - warum wohl, später erkenne ich wohl den Grund.
In die Arndtstraße einbiegend, vorbei an der alten Waggonfabrik Steinfurt, geht die Fahrt in Richtung Amalienau über die Körteallee, einst eine der Prachtstraßen Königsbergs, zur Hardenbergstraße - die Straße meiner Kindheit. Die Vorstellung, daß sich jetzt hier in einem alten Wohnhaus an der Ecke Steinmetzstraße ein Hotel befinden soll, ist für mich nicht nachvollziehbar.
Plötzlich sind wir da - doch das Gebäude vermutete ich an einer anderen Stelle. Meine Straße hatte ich gleich nach der Öffnung der Grenzen aufgesucht - das Wohnhaus Nr. 26 steht nicht mehr. Hier lebte über uns Alfred Partikel, Professor an der Kunstakademie, dem ich damals in meiner Kindheit durch meine häufigen Besuche das Malen verdanke. Die Ecke Steinmetzstraße nannten wir aus unerfindlichen Gründen "Spinatecke". Merkwürdig! Hier lebte für einige Zeit die bekannte deutsche Schriftstellerin Marie Luise Kaschnitz - Kindergartenzeit mit Tochter Iris! Im Hotel "Tschaika" wird noch renoviert - die Rezeption wird westlichem Standard angepaßt. Die Atmosphäre ist sehr russisch, ausgesprochen angenehm, immerhin dem zukünftigen Reisenden sehr viel mehr zu empfehlen, als der wenig phantasievolle und heruntergekommene Kasten, das "Hotel Kaliningrad", in der gesichtslosen City dieser Stadt.
Man beschließt, sogleich in die Stadt zu fahren. Irina ist noch greifbar, der Fahrer auch. Mein Kollege aus Bad Bevensen ist auch Ostpreuße, aus der Niederung - kennt schon diese Stadt. Die drei anderen Begleiter sind neugierig. Irina möchte zuerst den Dom zeigen - ich plädiere für den Paradeplatz - abgemacht. Zunächst das Kant-Denkmal, ursprünglich von Christian Daniel Rauch geschaffen und an diesem Platz stehend, dann nach den Luftangriffen im August 1944 nach Schloß Friedrichstein in Sicherheit gebracht - dem Landgut der Grafen Dönhoff. Nach dem Zusammenbruch verschollen. Durch deutsche Spenden wurde eine Kopie des Berliner Bildhauers Harald Haake geschaffen, die am 27. Juni 1992 auf dem von den Russen "Ploschtschad Universitetskaja" genannten Paradeplatz vor allem durch das Engagement von Marion Gräfin Dönhoff aufgestellt wurde. Daneben das Universitätsgebäude, 1861 von Friedrich August Stüler, einem Schüler Schinkels, erbaut. Die Fassade ist zerstört und durch eine neue sachliche Front ersetzt worden. Ein Blick nach innen zeigt uns noch die Räume aus der ersten Zeit der Instandsetzung. Im Innenhof haben sich Skulpturen aus den Trümmern der alten Stadt angesammelt - teils ohne Köpfe.
Für jeden Besucher des heutigen Königsberg obligatorisch, der ebenfalls auf dem Paradeplatz liegende unterirdische Befehlsstand von General Lasch, dem Stadtverteidiger von Ende Januar bis zum 9. April 1945 - eines der meistbesuchten Museen der Stadt. Zu beiden Seiten des tief unter der Erde liegenden 30 Meter langen Ganges befinden sich viele kleinere Räume mit zahlreichen Schautafeln, Fotografien und mehreren Dioramen (die Russen sind Meister auf diesem Gebiet) - Zeugnisse der Schlacht um Ostdeutschlands Hauptsstadt.
Erschütternd und nachdenklich verlassen wir diese Stätte in der Erkenntnis, daß sich hier unten das Grab des alten Königsberg befindet - wir steigen die Bunkertreppen hinauf und sind in der Hauptstadt der heute zur Russischen Föderation gehörenden Exklave. Jeder sollte dieses Bunkermuseum sehen, um die Situation des damals so geschlagenen Landes zu verstehen. Irina besteht noch darauf, daß es zu jener Zeit, wie auf den Tafeln angegeben, tatsächlich 135.000 deutsche Soldaten waren, die diese Stadt verteidigten, und nicht 35.000, die später Otto Lasch - nach der Rückkehr aus der Gefangenschaft - in seinem Buch genannt hat. Un- terschiede! In sowjetischen Zeiten wurden Zahlen nicht so genau genommen - vor allem, wenn sie der Propaganda dienten.
... Erinnerungen an die alte Stadt: Die "3" fährt den Gesecusplatz hinunter, linker Hand das Schloß. Der Kaiser-Wilhelm-Platz naht - alle Straßenbahnlinien scheinen sich hier zu treffen. Rechter Hand taucht das Schuhhaus Boos auf - Kinderschuhe -, unsere Mutter kaufte hier zu gerne! Gegen-über auf seinem Postament der alte Kaiser, das gezogene Schwert in die Luft streckend. Menschenansammlung an der Haltestelle, Gedränge beim Ein- und Aussteigen im Mittelpunkt der Stadt. An der Kreuzung Altstädtische Langgasse die erste Ampel der Stadt. Einige Autos stauen sich, Gehupe, dazwischen auch mal ein Pferdefuhrwerk. Und weiter durch die geschäftige Kantstraße hin zur Krämerbrücke, über den Neuen Pregel. Und rechts am Hundegatt - da standen sie, die mich als Kind so faszinierten - die Speicher. Am Kai Schiffe mit hohen Ladebäumen, Kurische Reisekähne, Prähme, Güterwaggons der Hafenbahn, Kähne, Masten - und der Geruch von Teer, Holz und Takelage, nach Gewürzen. Durch die engen Gassen des Viertels bin ich gegangen, bin stehengeblieben, habe das Fachwerk bestaunt, meine ersten Versuche des Zeichnens unternommen. Gedanken - sich ihnen hingeben - so tun, als führe man tatsächlich die Kneiphöfische Langgasse entlang - über die Grüne Brücke, links die Börse, im Stil der Florentiner Renaissance durch den Bremer Architekten Heinrich Müller 1870 bis 1875 erbaut - doch die Börse - hat sie sich verändert? ... Und dann die Konfrontation: eine neue Stadt tut sich auf, eine Stadt ohne Konzept, bestehend lediglich aus zwei sich kreuzenden monumentalen Achsen, ohne Raum, ungestaltet, abweisend, kalt. Betonklötze in grauer Monotonie, die Fassaden teilweise schon wieder zerbröselt. Das Auge möchte sich irgendwo festhalten an diesen wahllos und quergestellten Klötzen, sucht sich ein kleines Stück Detail mit einer annähernd gelungenen Form - verliert sich im Nichts, bleibt am "Dom Sowjetow", dem Haus der Räte, hängen, das seit Anfang der achtziger Jahre eine Neubauruine ist. Günter Engelin, einer der letzten lebenden Deutschen auf der Kurischen Nehrung, heute Busfahrer des Linienbusses Memel- Königsberg, antwortete auf meine Frage nach diesem Monstrum in breitestem Ostpreußisch: "Christian, dem Fundament ist jeplatzt!" Offensichtlich sitzen in den darunterliegenden Resten des alten Ordensschlosses noch die Kellergeister des bekannten "Königsberger Blutgerichts" und kratzen an den schwankenden Fundamenten! Und dann sehen wir von der den ganzen Kneiphof überspannenden Hochbrücke herab den alten mächtigen Back-stein-Dom. Um das Jahr 1325 ursprünglich als Basilika begonnen, wurde er nach 1351 als dreischiffige Hallenkirche weitergebaut und vollendet. Die Domkirche steht noch und hat ihre Existenz wohl nur dem noch total erhaltenen, 1924 durch Friedrich Lahrs angebauten Kant-Grabmal zu verdanken. Diese Blöße der Zerstörung wagten die Sowjets offensichtlich nicht, hatte doch Breschnew persönlich die Vernich- tung aller deutschen Kulturdenkmäler angeordnet, die 1969 zur radikalen Sprengung des Königsberger Schlosses führt |
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