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Es ist Verleugnung der Gerechtigkeit und der Liebe

 
     
 
Wenn man heute es so darstellt, als ob das ganze deutsche Volk und jeder von uns sich schuldig gemacht habe durch die Greueltaten, die von Mitgliedern unseres Volkes im Kriege begangen sind, dann ist das ungerecht. Wenn man sagt, das ganze deutsche Volk und jeder von uns sei mitschuldig an den Verbrechen, die in fremden Ländern und im deutschen Land, die vor allem in den Konzentrationslagern begangen sind, so ist das gegen viele von uns eine unwahre und ungerechte Beschuldigung ... Es ist Verleugnung der Gerechtigkeit und der Liebe, wenn man uns alle, jeden deutschen Menschen, für mitschuldig an jenen Verbrechen und darum für strafwürdig erklärt ... Drum fort mit der unwahren Beschuldigung, die behauptet, alle Deutschen seien mitschuldig an den Schandtaten, die im Kriege geschehen sind, seien mitverantwortlich für die Greueltaten in den Konzentrationslagern!"

Solche Worte, heute gesprochen, würden dem Verfasser den Ruf eintragen, er gehöre in die rechte Ecke und damit zu den Unanständigen. Dabei steht der Kardinal Clemens August Graf von Galen heute in hohem Ansehen - weniger wegen der Ansichten, die er am 1. Juli 1945 in Telgte vertreten hat und nicht nur hier, sondern in den darauf folgenden Monaten immer wieder, als wegen seines in der Zeit der national
sozialistischen Herrschaft in Deutschland mit Nachdruck in aller Öffentlichkeit erhobenen Protestes gegen Maßnahmen der damaligen Staatsführung. Daß er genau so mannhaft und ohne Rücksicht auf sein persönliches Schicksal Ungerechtigkeiten, Grausamkeiten, Verbrechen der Sieger angeprangert hat, das ist heute weithin unbekannt. Und gerade im Zusammenhang mit den von offiziellen Stellen anläßlich des 60. Jahrestages der Kapitulation der deutschen Wehrmacht veranstalteten Jubelfeiern tut es gut, daran zu erinnern, wie eine charakterstarke, fest im Glauben verwurzelte Persönlichkeit die Lage im damaligen Deutschland einschätzte.

Vor der deutschen Niederlage erhob der damalige Bischof von Münster seine Stimme gegen die "Anbetung der Rasse", wie er sie im Nationalsozialismus erlebte. 1934 schrieb er das Vorwort zu einem Buch zweier katholischer Theologieprofessoren, in dem sie gegen den von Reichsminister Alfred Rosenberg verfaßten "Mythos des 20. Jahrhunderts" zu Felde zogen. Als 1941 die Gestapo zahlreiche Gebäude katholischer Orden ohne Rechtsgrundlage beschlagnahmte, predigte er gegen solche Willkürmaßnahmen. Telegrafisch beschwerte er sich beim preußischen Ministerpräsidenten Göring und prangerte gegenüber dem Reichsinnenminister Frick den Rechtsbruch an. Als immer häufiger Gerüchte in die Öffentlichkeit drangen, daß Insassen von Heilstätten, die als unheilbar galten, auf Anordnung staatlicher Stellen als lebensunwert getötet wurden, da erstattete er im August 1941 bei der Staatsanwaltschaft beim Landgericht in Münster Anzeige wegen Mordes und protestierte in Predigten unverblümt gegen die Tötungen. Tatsächlich wurde die Euthanasieaktion daraufhin eingestellt.

Zwar lehnte der Bischof die Ideologie des Nationalsozialismus ab - weil dazu die Verfolgung der Kirche und die Rechtlosigkeit gehörte, vor allem aber, weil sie den Menschen zum Maß aller Dinge machte -, doch bedeutete das nicht, daß er den Sieg der Alliierten über Deutschland herbeigesehnt hätte.

Nachdem Ende März 1945 britische Truppen den kleinen Ort in der Nähe von Münster besetzt hatten, in dem er leben mußte, weil ihm das durch britische Bomben zerstörte Münster keine Unterkunft mehr bieten konnte, drückte er durch eine öffentliche Erklärung sein Empfinden aus. Die Besetzung sei für ihn, "wie für jeden Deutschen, ein erschütterndes Erlebnis gewesen". "Unsere Herzen bluten bei der Not unseres Volkes."

Am 6. April 1945 interviewte ihn ein amerikanischer Journalist namens Hans Fleischer und faßte das Gespräch in einem Artikel zusammen: "Der Prälat, der Hitler kritisierte, betrachtet die Alliierten als Feinde." Er habe gesagt: "Ich bin und bleibe Deutscher ... Der Bischof machte klar, daß, obwohl er und andere gebildete Deutsche Antinazis sein könnten, sie trotzdem treu gesinnt sein müßten gegenüber dem Vaterland und sie daher die Alliierten als Feinde betrachten müßten." Daraufhin kritisierte ihn der im US-amerikanischen Exil lebende Thomas Mann als "unbelehrbaren Geistlichen", die in New York erscheinende Emigrantenzeitschrift Aufbau bezeichnete ihn als "antihitlerischen Hitlerianer", was einige US-Besatzungsoffiziere dazu veranlaßte, Galen zu besuchen und ihm nahezulegen, Thomas Mann, "der all die Jahre weit vom Schuß seines Daseins sich habe freuen können, die passende Antwort zu geben." (Portmann, "Kardinal v. Galen").

Als die Plünderungen durch marodierende Fremdarbeiterbanden immer mehr zunehmen, mahnt von Galen den Chef der Militärregierung in Westfalen, daß die Sieger mit der Macht auch die Pflicht übernommen hätten, für die öffentliche Ordnung zu sorgen sowie Leben und Eigentum vor unnötiger Gewalttat, Zerstörung und Plünderung zu schützen. Er verlangt, die britische Besatzungsmacht solle nicht länger die Vergewaltigungen und Plünderungen der Fremdarbeiter dulden, und er kritisiert, daß auch amerikanische Soldaten "aus Übermut" plündern. Einen Monat später schreibt er an den britischen Kommandanten: "Der Befehl Generals Eisenhowers, sich der Gewalttaten und Plünderungen zu enthalten, wird vielfach nicht beachtet. Fast täglich kommen an mich bittere Klagen aus verschiedenen Teilen des Bistums Münster über neue Gewalttaten, Morde, Ausschreitungen der freigelassenen Kriegsgefangenen und der Fremdarbeiter."

Am 1. Juli 1945 predigt der Bischof bei der Wallfahrt der Katholiken von Münster nach Telgte. Dabei beläßt er es nicht bei geistlichen Ermahnungen, sondern er beschäftigt sich wieder mit den Kollektivschuldvorwürfen gegen das deutsche Volk und mit den Gewalttaten umherziehender Banden von Fremdarbeitern. "Darum fort mit der unwahren Beschuldigung, die behauptet, alle Deutschen seien mitschuldig an den Schandtaten, die im Kriege geschehen sind, seien mitverantwortliche für die Greueltaten in den Konzentrationslagern. Fort mit solch unwahrer und ungerechter Untermauerung einer Haltung, die es zuläßt, daß der Rest unserer Habe aus den durch Bomben zerstörten Wohnungen weggeschleppt, daß Häuser und Höfe auf dem Lande von bewaffneten Räuberbanden geplündert und verwüstet, daß wehrlose Männer ermordet, daß Frauen und Mädchen von vertierten Wüstlingen vergewaltigt werden." Daraufhin wird er zur britischen Militärregierung zitiert. Der britische Oberst wirft ihm vor, er habe mit solchen Sätzen die Militärregierung vor dem deutschen Volke herabgesetzt und das Vertrauen zu ihr untergraben. Dadurch sei die angestrebte Erziehung des deutschen Volkes in Frage gestellt. Bischof von Galen bleibt bei seiner Haltung, erklärt vier Tage später lediglich, daß ihm die englische Militärregierung erklärt habe, sie sei "weit davon entfernt, sich in ihren Maßnahmen von Haß oder Rachsucht leiten zu lassen".

Im August 1945 schreibt der Bischof an Papst Pius XII. und schildert ihm die verzweifelte Lage Deutschlands - von den Kollektivbeschuldigungen über den Bruch der Genfer Konvention gegenüber den deutschen kriegsgefangenen Soldaten, über "rücksichtslose Vertreibung der Deutschen Bevölkerung aus Heimat und Besitz", über die Vertreibung der Deutschen aus Ostdeutschland. Und er warnt, daß dadurch der Boden bereitet werde für die "Siegeszukunft der bolschewistischen Ideen weit über die Grenzen der russischen Besatzungszone hinaus".

Als Weihnachten 1945 bekannt wird, daß der Papst drei deutsche Bischöfe zu Kardinälen ernannt hat, darunter auch Bischof von Galen, deutet dieser das in einer Predigt in Rom wenig später als einen Ausdruck der "Liebe des Papstes für unser armes deutsches Volk. Vor aller Welt hat er als übernationaler und unparteiischer Beobachter das deutsche Volk als gleichberechtigt in der Gemeinschaft der Nationen anerkannt." Als er im Februar nach Rom fährt, um vom Papst empfangen zu werden, nutzt er die Gelegenheit, mehrere deutsche Kriegsgefangenenlager in Italien zu besuchen. Er spricht den deutschen Soldaten Mut zu, nimmt sie in Schutz vor kollektiven Beschuldigungen und versichert sie des Beistands seiner Kirche. Daß das keine leeren Worte waren, zeigt das Eintreten von Galens für den von einem alliierten Gericht zum Tode verurteilten ehemaligen Kommandeur der 12. SS-Panzerdivision "Hitlerjungend", General Kurt Meyer ("Panzermeyer"). Nachdem er von Meyers Verteidiger über die Umstände der Verurteilung unterrichtet worden ist, schreibt er: "Nach den mir gemachten Mitteilungen ist der General Kurt Meyer zum Tode verurteilt worden, weil ihm unterstellte Männer Verbrechen begangen haben, die er nicht veranlaßt noch gebilligt hat. Als Vertreter christlicher Rechtsauffassung, nach der jeder Mensch nur für seine eigenen Taten verantwortlich und gegebenenfalls bestrafbar ist, unterstütze ich deshalb das Gnadengesuch für den Generalmajor Meyer und bitte um Erlaß der zuerkannten Strafe. Gez. Clemens August Graf Galen".

Am 16. März 1946 spricht er zum letzten Mal öffentlich in Münster. Die Ansprache wird vom Westdeutschen Rundfunk übertragen. Er sagte unter anderem: "Trotz der heldenmütigen Tapferkeit unserer Soldaten" sei "unser deutsches Vaterland" zusammengebrochen. "Trotzdem steht das, was unsere Soldaten in treuer Pflichterfüllung getan haben, immer und wird für alle Zeiten vor uns stehen, als ein Heldentum, als eine Treue und Gewissenhaftigkeit, die wir rühmen, die wir anerkennen. Das möchte ich vor allem den Soldaten sagen, die hier sind, und denen sagen, die noch nicht hier bei uns sind ..."

Am 22. März 1946 stirbt der Kardinal, nicht nur von den deutschen Katholiken betrauert. Er wird im Hohen Dom zu Münster beigesetzt.

U. Meixner

 

Laut Thomas Mann ein "unbelehrbarer Geistlicher" und der Emigrantenzeitschrift Aufbau ein "antihitlerischer Hitlerianer": Der Bischof von Münster von 1933 bis 1946, Clemens August Graf von Galen
 
     
     
 
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