|
Im Jahr 1964 erschien ein Buch des damaligen Leiters der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft in Heidelberg, Georg Picht, mit dem Titel: "Die deutsche Bildungskatastrophe". Zuvor hatte eine Artikelserie von ihm zum gleichen Thema in Christ und Welt bereits für Aufsehen gesorgt. Das liegt jetzt 40 Jahre zurück.
Picht diagnostizierte angesichts fehlender Gymnasien und zu weniger Plätze an Universitäten einen Bildungsnotstand. Diesen setzte er mit wirtschaftlichem Notstand gleich. Er sagte ein rasches Ende des wirtschaftlichen Aufschwungs voraus, wenn qualifizierte Nachwuchskräfte fehlten, ohne die im technischen Zeitalter kein Pro- duktionssystem etwas leisten könne. Die Zahl der Abiturienten sei das geistige Potential eines Volkes, und von diesem geistigen Potential seien in der modernen Welt die Konkurrenzfähigkeit der Wirtschaft, die Höhe des Sozialprodukts und die politische Stellung abhängig. Aus dem im Vergleich zu anderen Industrienationen geringeren Anteil der Bildungsausgaben am Bruttosozialprodukt in der Bundesrepublik leitete er eine unterwertige Rolle der Bildung auf der nationalen Prioritätenskala ab. Den quantitativen Mangel sah er darin, daß es zu wenige Abiturienten, zu wenige Lehrer und überfüllte Hochschulen gäbe.
Diese Erkenntnis hatte auch der 1957 von Bund und Ländern eingerichtete Wissenschaftsrat gewonnen. Als qualitativ unzureichend galten das "veraltete" Bildungssystem, worunter überlange Studien- zeiten und die scharfe Auslese beim Zugang zu einer höheren Ausbildung verstanden wurden.
Auch wenn Erkenntnisse und Forderungen also nicht völlig neu waren: Picht hat sie populär gemacht. Er wurde deshalb immer wieder als Kronzeuge für die Notwendigkeit der quantitativen Expansion des Schul- und Hochschulwesens zitiert und von nahezu allen Bildungspolitikern vereinnahmt. Ihm galt später, als manche Folgen der Expansion mit politischen Entwicklungen, wie dem Studentenprotest Ende der 60er und in den 70er Jahren zusammentrafen, aber auch der unberechtigte Vorwurf, Urheber und Verantwortlicher für Fehlentwicklungen der Reform zu sein.
Derzeitig wird wieder gefordert, die Zahl der Studierenden zu steigern. Es würden in Zukunft mehr Hochschulabsolventen gebraucht, um so der demographischen Entwicklung Rechnung zu tragen, daß ab dem Jahr 2020 mehr als ein Drittel der Erwerbstätigen über 50 Jahre alt sein wird (2002: 22 Prozent). Die OECD schlägt Alarm, weil die Ausgaben in Deutschland für Bildung hinter denen in anderen Ländern rangieren und weil zu wenige junge Menschen das Abitur machen.
Das hatten wir schon einmal. Nur war die Situation vor 40 Jahren eine völlig andere: Lediglich fünf Prozent des entsprechenden Jahrgangs erwarben die Reifeprüfung; Die Zahl der Studenten belief sich auf rund 300.000. Derzeitig gibt es 43 Prozent Hochschulzugangsberechtigte und 36 Prozent Studienanfänger der in Betracht kommenden Altersgruppe; die Zahl der Studierenden ist auf über zwei Millionen gestiegen.
Wenn angesichts solcher Zahlen gefordert wird, es müßten noch mehr junge Menschen ein Studium aufnehmen, stellt sich die Frage, ob da nicht von der OECD und anderen, vor allem Bundesbildungsministerin Bulmahn, überzogen wird. Wo soll das noch nicht ausgeschöpfte Potential liegen? Wenn heute schon über die mangelnde Studierfähigkeit von Hochschulzugangsberechtigten geklagt wird, erwecken entsprechende Forderungen eher Befürchtungen, als daß sie Ansporn sind.
Eine Erhebung zur wirtschaftlichen und sozialen Lage der Studierenden in Deutschland hat ergeben, daß junge Menschen aus sozial schwächeren Familien weiterhin auffallend weniger Chancen auf eine Hochschulausbildung haben als solche aus anderen Schichten. Kinder von Vätern, die über eine Hochschulreife verfügen, beginnen zu 84 Prozent mit einem Hochschulstudium; nur 27 Prozent sind es bei Vätern mit einem Realschulabschluß; bei Vätern mit Hauptschulabschluß sind es 21 Prozent.
Von dem Anstieg der Studienanfängerquote in den letzten Jahren profitierten Kinder aus den verschiedenen Bildungsschichten sehr unterschiedlich.
Keine Frage sollte es sein, daß soziale Herkunft kein Hindernis auf dem Weg zur Hochschule sein darf. Ebenso sollte alles getan werden, daß jeder einzelne seinen Fähigkeiten entsprechend gefördert wird. Dies ist nicht nur ein Gebot aus der Umsetzung des "Rechts auf Bildung", sondern auch deshalb, weil das Land alle Reserven ausschöpfen muß, um in der internationalen Konkurrenz mitzuhalten. Führen nicht aber solche Vergleichsdaten zu dem falschen Schluß, daß noch ein erhebliches Potential schlummert und nur geweckt werden muß?
Es mag ja politisch nicht korrekt sein - die Frage ist aber dennoch zu stellen: Gibt es vielleicht auch einen Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Befähigung? Damit es etwas "korrekter" klingt: Auch bei Kindern aus sozial höheren Schichten ist nicht jeder für ein Hochschulstudium geeignet. Ist es vielleicht so, daß bei unteren sozialen Schichten - unabhängig von der fehlenden Förderung durch die Eltern oder mangelnden Anreizen durch das Umfeld - der Anteil derjenigen, die nicht über die entsprechende Befähigung verfügen, größer ist?
Dieser Frage muß man zumindest einmal nachgehen, bevor womöglich Programme aufgelegt werden mit dem Ziel, den Anteil zu steigern, bis ein Gleichgewicht erreicht ist. Auf eine solche Idee könnten Vertreter einer Quotenregelung kommen. Alles schon mal dagewesen. Die "Quotenfrau" läßt grüßen.
Alle Vergleiche mit anderen Staaten, in denen der Anteil der Studierenden höher ist als in Deutschland, leiden an einem entscheidenden Mangel. Es wird nicht berücksichtigt, daß unser duales System mit einer qualifizierten Berufsausbildung in den in Vergleich genommenen Ländern keine Parallele hat. Junge Menschen, die bei uns nach dem Abitur oder Realschulabschluß eine anspruchsvolle Lehre absolvieren, dürfen sich durchaus mit denjenigen messen, die mancherorts ein drittklassiges College besucht haben.
Solange die OECD-Experten das nicht begreifen, werden ihre Thesen nur bei denjenigen Anerkennung finden, die meinen, daß "im Grunde" jeder studieren könne, und die auf Biegen und Brechen ein Volk von Abiturienten wollen. Alles dafür, daß sämtliche Reserven auch in den sogenannten bildungsfernen Schichten der Bevölkerung ausgeschöpft werden, aber auch alles dagegen, daß eine weitere Nivellierung und Niveausenkung als Folge einer wie zwanghaft wirkenden quantitativen Ausweitung eintritt.
Professor, Politiker und Publizist: Prof. Dr. George Turner, geboren am 28. Mai 1935 im ostdeutschen Insterburg, war - nach dem Studium der Rechts- und Staatswissenschaften in Göttingen, München und Würzburg sowie nach Lehrtätigkeit an der TU Clausthal und der TU Berlin - von 1970 bis 1986 Präsident der Universität Hohenheim/Stuttgart. Von 1979 bis 1983 leitete er die Westdeutsche Rektorenkonferenz, deren Vizepräsident er zuvor drei Jahre lang gewesen war. 1986 wurde er in Berlin zum Senator für Wissenschaft und Forschung berufen. Nach dreijähriger Amtszeit nahm er wieder die Lehrtätigkeit in Hohenheim und an der Humboldt-Universität Berlin auf, bis er im Jahr 2000 emeritiert wurde. Heute ist er unter anderem als Ehrensenator der Lennart-Bernadotte-Stiftung sowie als Beauftragter der Verlagsgruppe Georg von Holtzbrinck aktiv. Auch organisiert und moderiert er regelmäßig Vortrags- und Diskussionsveranstaltungen.
Neben seinem engeren Fachbereich hat sich der Jurist immer auch mit allgemeineren bildungs- und hochschulpoplitischen Fragen auseinandergesetzt, wie auch seine Bibliografie ausweist: Acht Bücher, sechs Broschüren und über 50 Aufsätze zu rechtswissenschaftlichen Fragen, aber auch acht Bücher, mehr als 100 Fachbeiträge und 255 Zeitungsartikel zu hochschulrechtlichen und hochschulpolitischen Problemen, schließlich drei Broschüren und über 80 Artikel zu anderen Themen - eine außerordentliche publizistische Leistung, auf die Turner stolz sein kann.
Orientierung vor, während und nach dem Studium: George Turner/ Joachim D. Weber: "Hochschule von A-Z. Orientierungen, Geschichte, Begriffe", Berliner Wissenschafts-Verlag, Berlin 2004, 365 Seiten, 9,80 Euro .Masse statt Klasse: Überfüllte Hörsäle an deutschen Universitäten sind ein sichtbares Zeichen für die schlechten Studienbedingungen.
|
|