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Man könnte mit Karl Valentin die Entwicklung der Rentendiskussion in Deutschland und auch in manchen europäischen Ländern betrachten und sagen: "Die Zukunft war früher auch besser". In der Tat ist die Diskussion um die Rente wieder voll im Gang und mit ihr wächst die Befürchtung vor dem Konkurs des Systems wegen der Überalterung der Gesellschaft. Ökonomen, Bevölkerungsforscher und Sozialwissenschaftler sind da mit ihren Zahlen unbarmherzig, und die Politik sucht Lösungen. Bis sie gefunden werden, steigen entweder die Beiträge oder die Zahl der Einwanderer, oder es sinken die Leistungen. Reserven gibt es nicht. Die Rentenkasse kann noch nicht einmal die vorgeschriebenen drei Monate an Leistungen vorhalten.
Im Moment steht eine Steigerung der Beiträge ins Haus. Sie steht sogar im Haushaltsentwurf 2003 der rot-grün en Koalition. Vermutlich wird man über kurz oder lang den Bundeszuschuß noch weiter erhöhen müssen oder in ein paar Jahren gleich auf eine steuerfinanzierte Rente übergehen. Der frühere Sozial- und Gesundheitsminister und zuständige Fachmann im Stoiber- Kompetenzteam, Horst Seehofer, hält all das nicht für notwendig. In einem Gespräch mit dem Autor sagt er wörtlich: "Nein, ich sehe diese Notwendigkeit nicht. Unsere gute deutsche Rentenversicherung ist zukunftsfähig, wenn sie richtig reformiert wird, und da liegt eigentlich das Debakel, das Walter Riester angerichtet hat. Wir dürfen ja nicht vergessen: Er hat vor gut einem halben Jahr eine große Rentenreform in Kraft gesetzt, die angeblich alle Probleme lösen sollte, und nicht einmal ein halbes Jahr nach Inkrafttreten dieser Reform sind alle Bestandteile seiner Reform in der öffentlichen Diskussion, weil sie völlig unrealistisch sind. Die Privatrente floppt, kaum jemand schließt sie ab. Die Diskussion über die Beitragserhöhung in der Rentenversicherung, die die Regierung zu verantworten hat, ist im Gang. Und wir sollten auch nicht vergessen, daß in den zurückliegenden Jahren durch diese Regierung die Rentner von der allgemeinen Wohlstandsentwicklung abgekoppelt wurden, das heißt, die Renten stiegen nicht so stark wie die Nettolöhne der Bevölkerung".
Seehofer läßt das Argument, wonach die Misere der Renten länger zurückreicht als drei Jahre und daß die Reparatur schon wegen der demographischen Entwicklung wahrscheinlich nicht ohne Systemwechsel zu machen sein wird, nicht gelten. Auch die hier und da angestellte Überlegung, durch mehr Einwanderung die Zahl der Beitragszahler zu erhöhen, ist für ihn ein Holzweg. Man sollte einmal zurückblicken und die Krankheitsgeschichte der Rentendebatte insgesamt sehen. Die frühere christdemokratisch geführte Bundesregierung habe "den Mut gehabt, vor der letzten Bundestagswahl eine große Rentenreform zu verabschieden". Norbert Blüm habe sie noch durch das Parlament gebracht, und die Reform sei "einer tiefen Sozialpolemik im Bundestagswahlkampf 1998" unterzogen worden. Das habe dann "zu dieser Rentenlücke geführt, für die sich Gerhard Schröder im Fernsehen bei der deutschen Öffentlichkeit entschuldigen mußte". Also habe er "nach der Wahl anders gehandelt, als er es im Wahlkampf angesagt hatte".
Seehofer sieht auch keine Notwendigkeit für einen Systemwechsel. Er hält "das Umlagesystem insgesamt für zu- kunftsfähig". Der Wechsel, der erfolgen müßte, wäre "ein anderer verantwortlicher Minister als Walter Riester für die Renten". Er, Seehofer, sei jetzt schon lange in der Politik und versuche, nicht alles durch die parteipolitische Brille zu sehen. "Auch wir waren nicht immer fehlerfrei in der Rentenpolitik. Aber so viele Fehler in so kurzer Zeit, wie sie Walter Riester in seiner Rentenpolitik gemacht hat, das ist doch eine Welturaufführung".
In diesem Zusammenhang sieht Seehofer auch keinen Mangel an Beitragszahlern. Beitragszahler seien "immer ein Produkt der Wirtschaftspolitik. Die erste und wichtigste Aufgabe, auch in der Rentenpolitik, ist, daß die Quelle, aus der sich die Rentenversicherung speist, nämlich die Wirtschaft, wieder zum Sprudeln gebracht wird". Reformen bei der Rentenversicherung nützten nichts, wenn durch eine lahmende Konjunktur und durch einen Rückgang der Arbeitsplätze die Einnahmen für die Rentenkasse ausblieben. "Deshalb ist die erste und wichtigste Aufgabe für eine Regierung, auch für eine neue Regierung, dafür zu sorgen, daß sich in der Wirtschaft wieder Dynamik entwickelt und daß es wieder mehr Arbeitsplätze in der Bundesrepublik Deutschland gibt". Das sei "gewissermaßen das Fundament jeder verläßlichen Sozialpolitik". Und ganz falsch wäre es, so Seehofer, "wenn man die Misere in der Rentenversicherung durch Zuwanderung lösen wollte, denn wir wissen aus den letzten Jahrzehnten: Es gibt keine Zuwanderung in die Arbeitsplätze, sondern es gibt eine Zuwanderung in die Sozialsysteme. Und das bedeutet: Noch höhere Zuwanderung, wie es ja die amtierende Regierung mit dem Zuwanderungsgesetz vorhat, würde unsere Sozialprobleme noch vergrößern, nicht verkleinern".
Nachdem Bundespräsident Rau das Einwanderungsgesetz unterzeichnet und mit einer Erklärung versehen habe, werde die Union nach Karlsruhe gehen und "die Menschen im Wahlkampf auch um eine Abstimmung über dieses Gesetz bitten". Man könne das Thema Immigration nicht aus dem Wahlkampf heraushalten. Immerhin handele es sich um "ein herausragendes Thema über die innere Ordnung und die Zukunft unserer Gesellschaft" und da sei es "nicht verkehrt, wenn man mit aller Sachlichkeit, ohne dumpfe Beitöne, darüber diskutiert, wie der richtige Weg in die Zukunft geht". Man wolle keine Ausländerfeindlichkeit schüren, im Gegenteil: "Es gehört zu unseren hohen Prioritäten, daß wir für die hier lebenden Ausländer verstärkte Integrationsbemühungen unternehmen. Aber eine noch größere Zuwanderung, als sie in den letzten 20, 25 Jahren stattgefunden hat, können wir in Deutschland, jedenfalls auf absehbare Zeit nicht verkraften". Deswegen müsse man sich politisch mit diesem wichtigen Thema auseinandersetzen.
Zur Höhe der Beiträge selbst hat auf einem Kongreß Mitte Juni in Berlin unter dem Titel "Demographie und Wohlstand" der Präsident des Ifo-Instituts in München, Professor Sinn, im Haus der Deutschen Wirtschaft ein neues System vorgestellt, wonach der Beitrag nach der Kinderzahl, also der Zahl der künftigen Beitragszahler, gestaffelt werden und bei mehr als drei Kindern gegen Null tendieren solle. Das fand den Beifall namhafter Wissenschaftler, auch aus Frankreich und den USA, weil die demographische Entwicklung nachweislich den umlagefinanzierten Sozialsystemen zu schaffen machen werde und in diesem System Familien heute benachteiligt seien. Seehofer hält diesen Vorschlag "für sehr vernünftig. Ich glaube sogar, daß das Bundesverfassungsgericht die Politik zu einer solchen Realisierung verpflichtet hat". Es gebe bereits ein analoges Urteil bei der Pflegeversicherung. Dort sollten Kinder beim Beitrag berücksichtigt werden "und deshalb werden wir natürlich in diese Richtung weiter arbeiten. Aber die Ehrlichkeit in einem Wahlkampf gebietet es, darauf hinzuweisen, daß unsere erste Priorität nach einer Regierungsübernahme die Steuerentlastung und die schrittweise Einführung des Familiengeldes ist. Wir können aus finanziellen Gründen nicht alles sofort realisieren, aber es bleibt sicher in unseren sozialpolitischen Zielen. Mit zweiter Priorität soll auch die Kinderzahl bei den Beiträgen zur Sozialversicherung stärker berücksichtigt werden".
Selbst die Einführung des Familiengeldes müsse "über mehrere Jahre" verteilt werden. Auch hier gelte "die Grundvoraussetzung, daß die Quelle des Sozialstaats, nämlich die Wirtschaft, wieder in Schwung kommt. Wir müssen uns vergegenwärtigen, daß unser Sozialstaat immer traditionell aus den wirtschaftlichen Erträgen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern finanziert worden ist. Wenn die Wirtschaft über mehrere Jahre lahmt, weil die politischen Rahmenbedingungen nicht stimmen, dann kann dies die Sozialversicherung nicht aushalten. Deshalb setzen wir an erster Stelle, daß die Wirtschaft wieder flott wird, und wenn die Wirtschaft wieder flott wird, dann hat auch unser Sozialsystem Zukunft". Das Problem hierbei sei nicht der Export, sondern "die Binnenkonjunktur, die mangelnde Bereitschaft, in Deutschland zu investieren, sich in Deutschland selbständig zu machen und Arbeitsplätze zu schaffen. Dazu bedarf es einer Fülle von Maßnahmen, Entbürokratisierung, Flexibilisierung, Steuer- und Abgabenentlastung". Das sei "sattsam bekannt, nur muß es mal geschehen. Ich habe in den letzten drei Jahren den Eindruck gewonnen, daß das Gegenteil gemacht worden ist, daß den wirtschaftenden Leuten immer mehr Fesseln angelegt wurden". Es habe ein paar wenige Vergünstigungen gegeben - aber nur "für die Banken, großen Konzerne und großen Versicherungen, die immer weniger Steuern in Deutschland bezahlt haben, bis hin, daß sie überhaupt keine Steuern mehr bezahlen. Das ist einfach ungerecht".
Die Union dagegen verfolge eine Politik nach dem Motto: "Laßt doch den Menschen mehr Geld im Geldbeutel durch geringere Steuern und Abgaben, und dann sollen die Menschen private Vorsorge treffen, wenn sie diese für notwendig halten". Man müsse "endlich diesen Marsch in den Abgabenstaat stoppen", es müsse aufhören mit der Suche nach dem Euro, "den wir zusätzlich mit Abgaben belegen können". Die Union wolle "nicht den Weg gehen, immer zu schauen, wie können wir zusätzliche Einkommen oder höhere Beiträge verlangen, sondern genau den umgekehrten Weg, endlich mal die Abgaben der Bevölkerung zurückführen, um den Menschen die verfügbaren Einkommen zu erhöhen".
Überall wird gespart, auch und gerade bei den Krankenkassen. Unter den Sparmaßnahmen der Kassen werden immer wieder auch die Mutter-Kind-Kuren genannt. Manche Kassen haben sie auch schon gekürzt, obwohl gerade diese Gruppe zu den Ärmsten der Armen gehört und diese Kürzung kaum ins Gewicht fällt. Rot-Grün will diese Kürzung durch eine gesetzliche Festschreibung verhindern und damit auch eine Zunahme der Zusammenbrüche wegen Erschöpfung vor allem bei alleinstehenden Müttern oder Müttern mit vielen Kindern vermeiden. Für den Sozialexperten Seehofer ergibt sich hier die Frage: Auf welcher Seite schlägt das Herz, auf der rechten, parteipolitischen und buchhalterischen Seite oder auf der linken, der menschlichen Seite? Für Seehofer, der im Frühjahr todkrank mehrere Wochen auf der Intensivstation lag, ist das keine Frage. Die Antwort kommt spontan: "Auf der menschlichen, und zwar aufgrund meiner persönlichen Erfahrungen als Patient dieses Gesundheitswesens. Ich glaube, es ist angezeigt, daß wir im deutschen Gesundheitswesen mehr auf die medizinischen Bedürfnisse der Menschen schauen und erst in zweiter Linie dann auf das verfügbare Geld. Wir müssen auf eine Umkehrung der Prioritäten hinaus. Und deshalb bin ich sehr dafür, daß diese Mutter-Kind-Kuren auch zum Standard im Gesundheitswesen in der Zukunft gehören |
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