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Politiker einmal unter sich

 
     
 
Die seit dem Umzug des Deutschen Bundestages von Bonn nach Berlin in unmittelbarer Nähe des Reichstagsgebäudes angesiedelte "Deutsche Parlamentarische Gesellschaft" bringt etwas fertig, das man nach dem skandalträchtigen Geschehen der letzten Wochen kaum noch für möglich hält: den kollegialen, freundlichen, sogar freundschaftlichen Umgang von Politikern miteinander und über die Parteigrenzen hinweg.

Im ehemaligen Palais des Reichstagspräsidenten direkt gegenüber dem Parlamentsgebäude, aber lange Jahrzehnte durch Mauer und Todesstreifen von ihm getrennt, hat der von seinen Mitgliedern liebevoll "Parlamentarische" genannte Club der Abgeordneten sein Berliner Domizil gefunden. Die kommunistische Mauer zwischen beiden Gebäuden schrumpfte zu einem harmlosen, in die Pflasterung eingelassenen Metallstreifen, der gedanken- und gedenkenlos überschritten wird, wenn die Abgeordneten des "hohen Hauses" von ihrem Arbeitsplatz im Plenarsaal in die angenehme Clubatmosphäre ihrer "Parlamentarischen" wechseln. Wo, so fragte man sich allerdings, wenn nicht hier an dieser Stelle wären zehn oder zwanzig Meter der Berliner Mauer
eine im wahrsten Sinne des Wortes dem Vergessen "im Weg stehende" Mahnung gewesen, um die Politiker tagtäglich an die Opfer der Mauer zu erinnern, für die jetzt in einiger Entfernung am Beginn des Tiergartens schlichte Holzkreuze stehen.

Ebenfalls in unmittelbarer Parlamentsnähe war die Parlamentarische Gesellschaft fast ein halbes Jahrhundert in Bonn zu Hause, wo sie 1951 gegründet wurde. Es war ein weiter Weg und eine Erfolgsgeschichte zugleich. "Von der Villa am Rhein in das Palais an der Spree" überschrieb Helmut Herles, Chefkorrespondent und vormaliger Chefredakteur des Bonner "General-Anzeigers" sein unlängst in Berlin vorgestelltes Buch, in dem er den Club der Abgeordneten als "die älteste Tochter des Parlaments und zugleich eine Institution der Demokratie" vorstellt.

Herles erzählt die Entwicklung der Parlamentarischen Gesellschaft und setzt sie zugleich in Beziehung zur deutschen Geschichte. So berichtet er anschaulich, sachlich und kenntnisreich von den Abgeordneten, den Präsidenten, Vorständen, Geschäftsführerinnen und Mitarbeitern der Gesellschaft und von den beiden Gebäuden in Bonn und Berlin, die diese Menschen mit Leben erfüllten und erfüllen. Die Gründer der Gesellschaft, die sich 1951 in Bonn trafen, orientierten sich an der Londoner Hansard Society. Sie waren von der britischen "Mutter der Parlamente" und dem britischen Clubgeist beeindruckt. Herles zitiert Erich Mende, den FDP-Vorsitzenden und späteren CDU-Abgeordneten: "Als der erste Deutsche Bundestag im September 1949 zusammentrat, prägte eine aus Krieg und Zusammenbruch entstandene demokratische und parlamentarische Solidarität den politischen Stil. Die Älteren kannten sich noch aus der Weimarer Zeit und hatten sich vorgenommen, die parteipolitischen Auseinandersetzungen in Grenzen zu halten und das Gemeinsame stärker zu betonen als die parteipolitische Trennung". Abgeordnete aller Fraktionen sollten eine

Begegnungsstätte über die Fraktionsgrenzen hinaus haben. Die Satzung besagt, Ziel der Gesellschaft sei "die menschlichen, sachlichen und politischen Beziehungen im Kreis der Mitglieder der Parlamente des Bundes und der Länder zu pflegen."

Herles bestätigt, daß in der Parlamentarischen "miteinander gesprochen und nicht nur gegeneinander mit Schlagwörtern gekämpft wird." Gesprächsrunden, Vorträge, Buchvorstellungen, Sommerfeste bis hin zu entspannender Geselligkeit bei Skat und Fußballübertragungen im Fernsehen trugen in Bonn wie jetzt in Berlin zu einer Atmosphäre bei, die in fünf Jahrzehnten die Arbeit des Bundestages ergänzte und unterstützte. Hier konnte über viele Streitfragen "offen, aber nicht öffentlich" gesprochen werden. Der Sozialdemokrat Carlo Schmid sagte dazu 1976: "... ich verrate kein Geheimnis, daß die wichtigsten Kompromisse an den weißgedeckten Tischen dieses Hauses gefunden worden sind."

Die Gesellschaft hatte bisher zehn Vorsitzende und Präsidenten (Karl Georg Pfleiderer, Kurt Georg Kiesinger, Otto Fürst Bismarck, Ernst Majonica, Hedwig Meermann, Richard Stücklen, Burkhard Ritz, Otto Wulff, Reinhard Freiherr von Schorlemmer und Elke Leonhard).

Herles läßt Wulff eine Begebenheit berichten, die typisch ist für den Stil der Begegnungen in der Parlamentarischen: Die beiden nach Charakter, Erscheinung und Überzeugung mehr als gegensätzlichen Politiker Ludwig Erhard und Herbert Wehner trafen sich bei einem Essen, das aus Anlaß des Besuchs österreichischer Abgeordneter 1974 stattfand. Das Gespräch sei auf die Schönheit, die kulturelle und historische Prägung Wiens gekommen. Erhard erinnerte sich an kurze Urlaubstage während seiner Soldatenzeit im Ersten Weltkrieg, Wehner daran, daß er dort kurze Zeit Geborgenheit bei seiner Flucht vor den Nationalsozialisten fand. Wulff: "Beide Männer hatten etwas Gemeinsames entdeckt, das sie schätzten und in liebevoller Erinnerung behalten hatten, ohne es bislang voneinander zu wissen. Das schafft jene Nähe, die das Aufeinanderzugehen erleichtert. Wehner erklärte mit einem Mal, wie sehr er mit Erhard 1966 trotz aller politischen Auseinandersetzungen menschlich gefühlt habe und Erhard erwiderte, wie sehr er von dem harten persönlichen Schicksal Wehners stets beeindruckt gewesen sei, das mehr als Respekt bei ihm ausgelöst habe".

Über denselben Wehner, so berichtet Herles, war ein Abgeordneter baß erstaunt, der die Bonner Villa betrat, ohne vom jährlichen Weihnachtsbasar zu wissen. Kam ihm doch dort der Zuchtmeister der SPD mit einem Puppenbett unter dem Arm entgegen, das dieser für eines seiner Enkelkinder erstanden hatte ...

Doch Herles berichtet nicht nur über die fünf Jahrzehnte des

Lebens der Parlamentarischen Gesellschaft, sondern auch über ihre Gebäude in Bonn und Berlin und deren Geschichte. Seit der Einweihung des Palais in Berlin im Jahr 1902 habe es nicht nur den sozialdemokratischen Reichstagspräsidenten Paul Löbe, seit 1932 dessen Nachfolger Hermann Göring (NSDAP) und den Reichstagsbrand 1933 "erlebt", sondern später die Eroberung durch die Rote Armee und danach in der "Hauptstadt der DDR" seine Nutzung als "Institut für Marxismus und Leninismus" und danach durch die DDR-Schallplattengesellschaft. Lange Jahre beobachtete und belauschte die "Staatssicherheit" vom Palais aus die Sitzungen der Bundestagsabgeordneten, die trotz der kommunistischen Proteste regelmäßig zu Sitzungen aus Bonn nach Berlin in das Reichstagsgebäude kamen.

Besonders wohltuend empfanden die neuen Abgeordneten nach der Wiedervereinigung den Gedankenaustausch und die

Begegnung mit Kollegen aus anderen Parteien. Sie brauchten keine Sorge zu haben, daß ihre Gedanken bei der Stasi landeten.

Das Buch von Herles liest sich wohltuend, nicht weil es eine "heile Welt" vorgaukelt, sondern weil es die realistische Darstellung eines Bereiches im parlamentarischen Leben gibt, der im öffentlichen Bewußtsein zwar weit hinter skandalträchtigen Schlagzeilen zurück- bleibt, aber gerade darum zu den menschlichen und politischen Fundamenten des demokratischen Staates Bundesrepublik Deutschland gehört. L. Opoczinski

Helmut Herles: "Von der Villa am Rhein in das Palais an der Spree", edition q, Berlin 2001, 160 Seiten, 24,50 Euro.

 

Gemälde der Bonner Villa: Von 1955 bis 1999 war hier der Sitz der Parlamentarischen Gesellschaft. Fotos (2): edition q

Berliner Reichstagspräsidentenpalais: Seit dem Umzug in die Hauptstadt ist die Parlamentarische Gesellschaft in dem 1902 eingeweihten Gebäude ansässi
 
     
     
 
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