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De facto wird nichts mehr laufen - keiner soll das Volk in dem Punkt mehr zu täuschen versuchen", sagt der türkische Oppositionspolitiker Erkan Mumcu, einst Mitglied der Regierungspartei AKP von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan, nun Chef der Liberalen im türkischen Parlament. Gemeint ist der anvisierte EU-Beitritt des Landes. Die Verhandlungen liegen seitens Brüssel auf Eis. Nur noch 20 Prozent der Türken glauben an einen Beitritt. Auch der sozialdemokratische Oppositionskollege Deniz Baykal kann den schönen Schein offenbar nicht mehr ertragen: Gespielte Zuneigung bringe die Scheidung, sagt er. Die Regierung in Ankara hat sich zu lange allein auf einen Erfolg des Beitrittsmarathons eingestellt. Nun hat sie Zeit darüber nachzudenken, ob die Türkei nicht auch gut, vielleicht sogar besser leben kann, wenn sie nicht in der EU ist.
Der türkische Medienunternehmer Aydin Dogan machte seine Übernahmepläne für die deutsche Sendergruppe "Pro Sieben / Sat1" jedenfalls nicht von einem Beitritt seines Landes abhängig, auch wenn die Zeitungen seiner Medien-Gruppe noch mehr oder weniger verhaltenen EU-Optimismus verbreiten. Allein die Tageszeitung "Milliyet" der Dogan-Gruppe kritisiert, wie "hinterhältig" die EU gerade die Punkte auf die lange Verhandlungsbank schiebt, die ohnehin Sprengstoff böten. Konkret spricht das Blatt die türkische Landwirtschaft an.
Diese Landwirtschaft als Hauptarbeitgeber jenseits der urbanen Zentren wäre indes stark beeinträchtigt, würde sie sich Brüssel unterordnen. Sie trägt nur knapp zwölf Prozent zum türkischen Bruttoinlandsprodukt bei, beschäftigt aber über 30 Prozent der türkischen Arbeitskräfte. Einmal in der EU angekommen, wäre das Aus dieser kleinen Betriebe besiegelt. Der Nicht-Beitritt verhindert so, daß weite Landstriche der Türkei veröden, die ohnehin starke Landflucht sich zuspitzt. Auch sind Infrastruktur und Bildungsstand gerade in den östlichen Landesteilen keineswegs darauf ausgelegt, daß im Dienstleistungssektor entsprechende neue Jobs geschaffen werden.
Die Wirtschaft des Landes wuchs vor Beginn der Beitrittsverhandlungen mit über 13 Prozent sogar deutlich stärker als 2005 (zirka fünf Prozent) beim Einsetzen der Gespräche über eine Vollmitgliedschaft. Reale wie psychologische Belebungseffekte der Gespräche auf die Wirtschaft halten sich also in Grenzen. Die türkische Ökonomie, ohnehin durch Assoziierungsabkommen und langjährige Kontakte an Europa orientiert (Zollunion seit 1996), wird sich daher weiter unabhängig vom Beitritts-Stand entwickeln, profitiert zumindest nicht unmittelbar davon. Viel wichtiger war und ist es, die Inflation einzudämmen. Eher davon wird künftig abhängen, wie die Entwicklung verläuft.
Die Mitgliedschaft läuft in vielen Bereichen auch ohne EU-Beitritt: Auf die mühsame Privatisierung staatlicher Konzerne hatte Brüssel wenig erfolgreichen Einfluß. Nur: Als Nichtmitglied bestimmt die Türkei jetzt ob und wann dies geschieht. Brüssel dagegen ließ schon im Vorfeld durchblicken, welche türkischen Sonderwege es zu entflechten gedenkt. Das bleibt Ankara künftig erspart, genauso die EU-Verfassung sowie eine kulturelle Bevormundung durch die EU-Kommissare und ihre marktharmonisierenden Eingebungen.
Eine Art privilegierte Partnerschaft ist somit zum Greifen nah: Die Türkei schickt bereits über 50 Prozent ihrer Exporte in die EU. Diese Quote wird nicht deshalb wachsen, weil das Land womöglich einmal zum Euroraum oder der Schengenzone gemeinsamer Grenzen gehören könnte. Wer gerade zu Weihnachten durch deutsche Läden flaniert, kann sich an den Warenetiketten überzeugen, daß eine der wichtigsten Industrien der Türkei, die Textilindustrie, schon jetzt vor keiner europäischen Grenze haltmacht. Sie würde sogar Einbußen erleiden, wenn das Land als Mitglied strengere EU-Auflagen und Maßnahmen gegen nachgemachte Markenartikel zu befürchten hätte. Die Türkei profitiert auch in anderen Bereichen davon, die EU konkurrenzlos günstig von außen zu beliefern.
Menschlich hingegen könnten die Kontakte kaum enger sein: 2,5 Millionen Einwohner türkischer Herkunft leben allein in Deutschland. Millionen deutscher Touristen besuchen die Türkei. Nur werden Probleme bedingt durch das Bevölkerungswachstum Kleinasiens jetzt dort gelöst werden müssen, und nicht mehr über Migration exportiert werden können.
Und der Euro? - Er wäre auf absehbare Zeit ohnehin nicht eingeführt worden. Die Kriterien der EU dafür kann die Türkei - nicht zuletzt wegen ihrer Staatsverschuldung - kaum erfüllen. Nicht die EU, sondern der Internationale Währungsfonds (IWF) drängt die Türkei zu Reformen. So gewann die türkische Zentralbank ihre weitgehende Unabhängigkeit erst nach dem Zusammenbruch der festen Wechselkurse der Währung Lira. Auch die Reform des Bankensektors ist auf nationale Eigenanstrengungen nach Anstoß durch den IWF entstanden, die EU als Erwartungshorizont somit entbehrlich.
Unabhängig von der Frage nach Europas Ende hinter oder vor der Türkei stammen die meisten Auslandsinvestitionen am Bosporus aus der EU. Alternativen zu Europa muß die Türkei daher nicht suchen - ökonomisch gehört sie in vieler Hinsicht schon dazu. Mit der "Schwarzmeer-Wirtschaftskooperation" (BSEC), entwickelt das Land seit 1992 (gegründet in Istanbul) zudem ein eigenes Kooperationsmodell. Dieser Kreis von Anrainerstaaten des Schwarzen Meeres wird an Bedeutung gewinnen. Sein Ziel: Zölle und nichttarifäre Handelshemmnisse reduzieren. Noch fehlen in dem heterogenen Bündnis verbindliche Ziele, doch auch die EU hat einmal als sehr begrenztes Bündnis für Kohle und Stahl begonnen.
Die Türkei wird sich daher stärker in ihrer Nachbarschaft engagieren. Nicht zuletzt das britische Beispiel zeigt, daß ein wenig Distanz zur EU gesund sein kann. Vielleicht entdeckt Ankara diese Haltung jetzt, getreu dem Motto Winston Churchills zur europäischen Integration: "We are with, but not of it" (Wir sind mit, aber nicht von Europa).
Foto: Inzwischen eine Minderheit: Türkischer Befürworter eines EU-Beitritts seines Heimatlandes (Reuters / Corbis) |
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