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Wolhynien ist eine historische Landschaft am Rande Ostmitteleuropas mit einer wechselvollen Vergangenheit. Die heute im Nordwesten der Republik Ukraine gelegene waldreiche Region mit Städten wie Kowel, Rowno und Nowograd Wolynsk, die im Norden von den riesigen Pripjetsümpfen begrenzt wird, hat sich im 12. Jahrhundert in Gestalt eines ostslawischen Fürstentums erstmals als eine politische Einheit formiert. Im 14. Jahrhundert fiel Wolhynien dann an Litauen, im 15. Jahrhundert an Polen, von dem es im Zuge der zweiten und dritten polnischen Teilung 1793 bzw. 1795 zugunsten des russischen Zarenreich es abgetrennt wurde.
Kurzzeitig konnte sich Polen den Großteils des Gebiets 35 729 qkm für die Zeit zwischen 1921 und 1939 nochmals angliedern, während 10 000 qkm schon damals unter sowjetischer Herrschaft standen. Mit dem Kriegsende kam ganz Wolhynien an die Ukrainische Sowjetrepublik und wurde nach der Auflösung der UdSSR Teil der freien Ukraine.
In Luzk, das nach der Eroberung durch Polen im 15. Jahrhundert Landeshauptstadt war und heute das administrative Zentrum der "Oblast" Wolhynien bildet, führt uns der Stadtrundgang zuerst zu der 1085 errichteten Burg am Ufer des Flusses Styr. Viele Denkmäler der sehenswerten Altstadt wurden erst 1985 unter Schutz gestellt. Spuren der reichen Geschichte von Luzk finden sich auf Schritt und Tritt und erinnern beispielsweise an das Jahr 1812, als hier während der Befreiungskriege gegen Napoleon der Stab der russischen Armee untergebracht war und Peter I. den Beitritt Moldawiens zum Zarenreich aushandelte. Ein Monument erinnert auch an die 67 000 Gefallenen und Ermordeten, die während der beiden Weltkrieges bei Luzk umkamen.
Im lutherischen Bethaus der Stadt traf unsere Reisegruppe vom Historischen Verein Wolhynien mit Angehörigen der örtlichen 57 Mitglieder zählenden deutschen lutherischen Vereinigung zusammen. Zum größten Teil handelt es sich um Deutsche, die mit Ukrainern oder Russen verheiratet sind und oft nicht die Möglichkeit zur Aussiedlung in die Bundesrepublik haben. Ein zweisprachiger deutsch-ukrainischer Gottesdienst findet jeden Sonntag statt. Zweimal im Jahr, zu Weihnachten und Ostern, kommt der bischöfliche Visitator von Odessa zum Predigen hierher. Neben dem Bethaus steht noch die deutsche Kirche. Baujahr: 1909. Heute gehört dieses Gotteshaus den Baptisten, deren Gemeinde 1200 Mitglieder zählt und stark aus den USA unterstützt wird.
Die deutsche Gemeinde, die die Traditionen der 1895 gegründeten evangelischen Gemeinde fortführt, bekommt ihrerseits wichtige Hilfen aus Bayern. Als Initiatoren des Neuanfangs wirkten hier Wolhyniendeutsche, die die im Hitler-Stalin-Pakt vereinbarte Umsiedlung der Volksgruppe aus den ostpolnischen Territorien in den Warthegau Anfang 1940 nicht mitgemacht hatten. Etwa 50 000 Deutsche waren 1921 bei der Teilung Wolhyniens unter das Sowjetregime gekommen und erlitten ein besonders schlimmes, oft tödliches Schicksal.
Eine erste große Umsiedlungswelle hatte es bereits im Gefolge des Ersten Weltkrieges gegeben. Während der Kämpfe 1915/16 wurden die Reste der in Wolhynien von den russischen Deportationsmaßnahmen verschonten deutschen Bevölkerung in die Ostgebiete des Reiches evakuiert, wo man sie schwerpunktmäßig in Ostdeutschland auf den über Arbeitskräftemangel klagenden landwirtschaftlichen Gütern einsetzte. Bis zum Frühjahr 1917 kamen so über 33 000 Deutsche aus Wolhynien und Südpolen in Deutschland an. Im Winter 1917/18 verringerte sich dann der Zuzug deutlich, ehe er im Sommer 1918 sprunghaft anstieg.
Tausende Wolhyniendeutsche, die aus den Verbannungsgebieten in Sibirien etc. in ihre Dörfer zurückgekehrt waren, entschlossen sich nun zur Aussiedlung. Über 17 000 waren es, die im Sommer und Herbst 1918 als sogenannte "Rückwanderer" im Reichsgebiet registriert wurden. Aus dieser Zeit sind auch verschiedene unfreundliche Reaktionen der einheimischen Bevölkerung auf die "russischen" Flüchtlinge belegt, von denen sich mehr als 20 000 in Ostdeutschland niederließen, gut 4000 in Schleswig-Holstein, 3600 in Pommern und jeweils 2000 bis 3000 in Schlesien, Brandenburg und Westpreußen.
Auf der Weiterfahrt durch den heutigen Nordwesten der Ukraine in Richtung Wladimir-Wolynsk und Ustilug passieren wir auch Tortschin, in dessen Umland einst 16 deutsche Kolonien mit einer evangelischen Kirche bestanden hatten. Im Zuge der von den Polen in der Zwischenkriegszeit betriebenen Polonisierung waren viele deutsche Bildungsstätten infolge des Gesetzes über Privatschulen aus dem Jahre 1932 als "nicht vorschriftsgemäß" geschlossen worden auch jene von Tortschin.
In Wladimir-Wolynsk, einer in der Blütezeit der Kiewer Rus unter Großfürst Wladimir 988/989 gegründeten Siedlung, die bis 1340 die Funktion einer wolhynischen Haupstadt hatte, besichtigten wir die Wassiljewski-Kathedrale, die als größtes Bauwerk der Kiewer Rus den Tatareneinfall von 1240 überdauerte. Und einige Kilometer vor Nowograd suchte unsere Gruppe vergeblich nach den Überresten der deutschen Mutterkolonien Wolhyniens: "Annette" und "Josephine".
Hier hatte sich im Frühjahr 1816 eine Schar deutscher Siedler auf dem polnischen Gut Philipowitsch eingefunden. Nach Ablauf von zwei Pachtperioden konnten die Kolonien 1840 von den Zuwanderern gekauft werden. Nach äußerst kärglichen Anfängen wuchsen nach und nach stolze Bauerndörfer aus dem Boden, über die heute allerdings längst wieder der Staub der Geschichte geweht ist.
Auch vom evangelischen Pastorat in Nowograd sind nur noch die Linden geblieben, und auf dem früheren deutschen Soldatenfriedhof mit 1700 Gräbern steht heute ein Sportstadion. Namen und Daten sind ausgelöscht. Unsere Erinnerung an die Kindheit und Jugend und die vielen deutschen Spuren in Wolhynien aber bleiben. Und an manchen Orten finden sich die alten Bilder sogar ganz deutlich wieder: das Blockhaus aus dicken Bohlen, der Brunnen mit Ziehgestell, ein Truthahn, der sich eitel aufplustert.
Der vollständige Bericht über die Reise des "Historischen Vereins Wolhynien" in die Ukraine im Juni dieses Jahres erscheint Anfang 1999 erscheint im Mitteilungsblatt "Weg und Ziel" des Hilfskomitees der evang.-luth. Deutschen aus Polen (Königsworther Straße 2, 30167 Hannover).
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