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Spät kommt Ihr, doch Ihr kommt, möchte man dem Zeit-Herausgeber Michael Naumann zurufen. In der Ausgabe vom 8. Januar hat er zwei Drittel der Titelseite freigeschaufelt, um seinem Aufruf zur Rettung des bankrotten Berlin die nötige Aufmerksamkeit zu sichern (Zusammenfassung, Folge 3 vom 17. Januar). Er zeichnet ein realistisches Horrorbild: Lediglich 38 Prozent ihrer Ausgaben kann die entindu-strialisierte Hauptstadt durch eigene Einnahmen decken, die Arbeitslosigkeit liegt bei 18 Prozent.
Die private und öffentliche Armut, die sich in solchen Zahlen ausdrückt, zieht abseits der Glitzerfassaden des neuen Stadtzentrums eine immer breitere Spur der Verwahrlosung. Geschäfte und Restaurants schließen, Schmierereien und Hundekot nehmen zu, die "Herz-mit-Schnauze"-Mentalität weicht einer ungekannten Rücksichtslosigkeit im Alltag. Die Stadt mit drei Opernhäusern, vielen Theatern und Museen kennt keine Debatten über Kunst und Kultur mehr, geredet wird nur noch über deren Finanzierung. Die Polizei registriert eine massive Zunahme von Jugendgewalt, die insbesondere von bestimmten Einwanderergruppen ausgeht. Die Misere erreicht auch Viertel, die noch als bürgerlich-proper gelten. Naumann beklagt, daß Berlins Elend den Bund und die anderen Länder kalt lasse.
Den Grund dafür sieht er in einer historisch begründeten "mentalen Kleinstaaterei". Das ist nur eine Teilwahrheit. Berlin ist ein äußerster Fall, bildet jedoch keine Ausnahme von einer sonst vorbildlichen deutschen Regel. Der Bund kaut selber finanziell auf dem Zahnfleisch und verfügt gar nicht über die Mittel, um Berlin aus dem Abgrund zu ziehen. Die Entschuldung der Stadt wird nur die Bundesschuld erhöhen. Das Desaster um die Lkw-Maut, das zwei deutsche Spitzenfirmen zu verantworten haben, Daimler-Chrysler mit Sitz in Stuttgart und die Deutsche Telekom in Bonn, läßt auf eine generell sinkende Konkurrenzfähigkeit der deutschen Industrie schließen. Vielleicht nimmt die Entindustrialisierung Berlins sogar die Zukunft des ganzen Landes vorweg. Es geht auch nicht bloß um regionalen Egoismus, vielmehr um die grundsätzliche Ratlosigkeit der Politik. Sie kann die Krisenherde, die sie selber angerichtet hat, nicht weiter mit Geldzuwendungen befrieden, doch die Kraft, einen Kurswechsel einzuleiten, hat sie ebenfalls nicht. Auch Naumann schwant, daß das Berliner Desaster etwas mit der seelischen Verfassung der Republik zu tun hat. Berlin sei "die Leidtragende einer fortwährenden Selbstkritik des Landes".
Da Deutschland sich nicht mehr als Nation und nur noch als "postklassischer Nationalstaat" (Heinrich August Winkler) begreife, mute es als Ausdruck seiner Selbstverachtung der Hauptstadt eine "architektonische Zitatensammlung mit Bunkern und Mahnmalen" zu. Gut gebrüllt, Löwe, doch man erinnert sich dunkel, daß Naumann selber zwei Jahre lang, von 1998 bis 2000, als Kulturstaatsminister mit an Schröders Kabinettstisch saß.
Warum hat er sich damals der destruktiven Mahnmal-Epidemie nicht energisch entgegengestellt? Von technischen Fragen wie der Buchpreisbindung und dem Erhalt der Künstlersozialversicherung abgesehen, kaprizierte er sich auf ein einziges Thema: die Kulturorganisationen der Vertriebenenorganisationen finanziell auszutrocknen. Naumann selber hat jene Geschichtspolitik befördert, die er jetzt als Übel anprangert. Angeblich sollte es gegen "nationale Beschränktheit" und um die "Internationalisierung" und "Vernetzung" von Erinnerung gehen: Das war exakt der postklassische Verbalschrott, mit dem noch jeder gesellschaftspolitische Irrweg gepflastert ist. Daß das Thema Vertreibung mit Wucht in die öffentliche Diskussion zurückgekehrt ist, ist gewiß nicht sein Verdienst. Nicht bloß die einschlägigen Knallchargen aus Politik und Ideologieproduktion richten die Stadt und das Land zugrunde, auch die vielen Halbmutigen und Späteinsichtigen vom Schlage Naumanns. Zunehmender Verfall zwischen Bunkern und Beton - ein Vorgriff auf die Zukunft der ganzen Republik?
Alltag am Cottbusser Tor in Berlin-Kreuzberg, seit langem schon ein sozialer Brennpunkt mit hohem Ausländer- und Arbeitslosenanteil. Mittlerweile geraten jedoch auch Gegenden auf die schiefe Bahn, die bislang als gutbürgerlich galten. |
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