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Von Gott zu Allah?

 
     
 
Über den Islam wissen die meisten Europäer verschwindend wenig, zumal die Deutschen. Noch nicht einmal ein Prozent hat schon einmal im Koran geblättert. Das hat eine Emnid-Umfrage festgestellt. Aber alle sagten, daß sie gern mehr wüßten.

Auf diese Nachfrage bauend titelte DER SPIEGEL am 02. 06. 01 mit "Wer war Mohammed?". Ob die Geschichte seinen Lesern einen Zugewinn an Erkenntnis gebracht hat, ist fraglich. Man kennt die SPIEGEL-Manier des Zusammenwürfelns von Information und Meinung. Bei dieser Titelgeschichte kam noch hinzu, daß sie größer als "Wer war Mohammed" angelegt war. Neben der Lebensgeschichte
des Propheten und seiner Botschaft, betraf sie die weltweite Ausdehnung des Islam und schließlich auch ein Interview mit dem ägyptischen Religionsminister. Warum gerade mit ihm? Es hätte auch ein Interview mit Staatspräsident Gaddafi sein können, oder eines mit einem Vertreter des Gottesstaates Iran. Oder auch mit Saddam Hussein, der die Kraft der Religion im Feld der Politik wiederentdeckte und die Palästinenser zum Heiligen Krieg gegen Israel aufgerufen hat. In ähnlicher Weise aus dem großen Topf des Islam sind auch die Bilder der kürzlichen SPIEGEL-Titelgeschichte geschöpft, darunter der Schwarze Stein von Kaaba, schießbereite Taliban-Muslime vor Buddha-Statuen, Saudi-Araber in dicken Sportwagen, Moscheen in Schwarzafrika, Islam-Unterricht in Duisburg, die Abbildung der im Mittelalter in Spanien erbauten Cordoba-Moschee.

Doch mit Blicken durch das Schlüsselloch auf "Die Macht des Propheten" (SPIEGEL-Innentitel), mit einem von der eigentlichen Geschichte abgesonderten (und deshalb nicht ganz so bedrohlichen) Nervenkitzel-Kasten "Die Terror-GmbH" sowie mit einem Interview unter dem besänftigenden Titel "Islam heißt Toleranz", hat selbst der sorgfältigste Leser nicht das Rüstzeug, um sich ein Bild vom Islam zu machen. Wer das möchte und eine Kompaktdarstellung dazu, die die Entstehung und Entwicklung des Islam im Austausch und in Auseinandersetzung mit dem Juden- und Christentum behandelt, von den Anfängen bis in die Gegenwart, mit Ausblick auf die Zukunft, der muß zum im Mai im Herbig-Verlag erschienenen Buch von Hans-Peter Raddatz greifen.

Wenn es sich in der öffentlichen Diskussion bisher auch kaum niederschlägt, Raddatz kann in seinem Buch eindrucksvoll darlegen, daß Islam und Christentum derzeit nicht nur respektierlich nebeneinander leben, sondern daß – ähnlich wie ehemals das Verhältnis zwischen dem real existierenden Sozialismus und dem kapitalistischen Westen "kippen" konnte und die Realität dieses Systems vergehen – derzeit ein paralleler Aushöhlungsprozeß auf Seiten der Christen erfolgt und auf Seiten des Islam eine unverminderte Konsolidierungstendenz. Die in der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts in der westlichen (christlichen) Hemisphäre entstandene liberale Fortschrittsgesellschaft hat die Bedingungen dafür geschaffen, daß eine Frage wie "Von Gott zu Allah?" ganz und gar nicht rhetorisch gemeint zum Titel eines Sachbuches avancieren und Raddatz‘ Thema über 500 Seiten tragen kann.

Der Autor ist Fachmann. Er hat Orientalistik studiert und seine Doktorarbeit über frühislamische Rechts- und Dogmenentwicklung geschrieben. Zugleich ist er bekennender Christ. Hans-Peter Raddatz glaubt an den Heiligen Geist, an die Jungfrau Maria und daran, daß Jesus Gottes Sohn ist. Raddatz hält sich an die Botschaft Gottes, die von seinem Sohn Jesus gelebt wurde, nämlich daß der Glaube "die Freiheit des Seins" bedingt und den "Mangel an Sein" ausschließt, sowie den Weg zum Nichts des Bösen, "vor dem Jesus Christus, der Geist Gottes, den Menschen bewahrt, wenn er ihm sagt, daß wer nicht glaubt, gerichtet ist". Mit diesem Credo endet das Buch. Aus dieser Quelle schöpft der Autor offenbar seine Kraft, eine so umfangreiche Streitschrift gegen die hierzulande übliche Islamdarstellung vorzulegen, von der die nach Erscheinen des Buches veröffentlichte und erwähnte SPIEGEL-Titelgeschichte nur ein weiteres Beispiel ist. Raddatz‘ Kritik geht aber über die Mediendarstellung hinaus. Er bedauert zurecht, daß die Islamwissenschaft in Deutschland im speziellen und die Orientalistik im allgemeinen, keine objektiven Forschungen betreiben, sondern "systemimmanent" bleiben, im Kern die Funktion von Islam orientierten Sprachrohren haben. Die Kirche verhalte sich entsprechend, zumindest seit dem 2. Vatikanischen Konzil von 1963. Seitdem sich die in der ersten Hälfte des 20.Jahrhundert entstandene Nouvelle Théologie hatte Gehör verschaffen können, gelte der Katholische Modernismus bzw. Liberalismus. Die Reformations-Kirche und der Katholizismus gleichen sich an, oder anders gesagt, sie stehen im Dialog. Den möchten die Kirchen nicht nur untereinander, sondern mit allen Religionen führen, nicht zuletzt auch mit dem Islam. Der Papst selbst hat bei diesem Bemühen den Ton angegeben. Aufgrund fehlender entsprechender Initiativen von islamischer Seite sind in kirchlichen Institutionen Gremien entstanden, die den angestrebten Dialog gewissermaßen vorbereiten. Sie arbeiten am Positivbild des Islam, indem sie z. B. ehemals von Kirchenvertretern gemachte, neuerdings ideologisch anmutende Aussagen aus ihrem Wissenskanon streichen, offenbar um dem zukünftigen Dialogpartner unbefangener entgegentreten zu können. Der von Raddatz geschilderte kirchlich-islamische Dialog ist im Wortsinne ein Monolog, der bar aller kritischen Offenheit geführt werde. Kritische Geister fehlen laut Raddatz aber nicht nur in der kirchlichen "Dialog-Industrie", sondern auch in der Politik. Es ist so, daß im Heimatland des Propheten die weltgrößten Erdölfelder liegen und weitere in angrenzenden Regionen. Im Sinne des Zugangs zu diesem Erdöl, und um ihren Ländern den Zugang zu wichtigen Märkten zu sichern, schließen nicht zuletzt auch deutsche Politiker fortlaufend ihre eigenen Kultur- und Geisteswerten entgegenlaufende Kompromisse. Keiner der Staaten im islamischen Kulturkreis ist eine Demokratie im westlichen Sinne, einige sind Militärdiktaturen. Christen sind aus dem islamischen Kulturkreis wenn nicht verjagt, dann in den vergangenen Jahrzehnten verdrängt worden. Dazu haben die Kirchen geschwiegen. Zu der gegenläufigen Bewegung, nämlich zum Migrationsdruck, der aus der Welt des Islam nach Europa stattfindet, haben Politiker beide Augen zugedrückt. Bei dem rezensierten Buch handelt es sich sowohl um – aus systemtheoretischer Sicht – geschriebene Kultur- und Ideologiegeschichte, als auch um Gesellschaftskritik. Der Gesellschafts- kritiker Raddatz kommt im zweiten Teil des Buches zu Wort. Von der liberalen Fortschrittsgesellschaft zeichnet er ein Schwarzbild. Sie sei einer "Diesseitsutopie" aufgesessen, der "Fremdorientierung" erlegen, im "Momentismus" verfangen und strebe in einer Art "spirituellen Selbstentleerung" , u. a. in der Form des "ideologisch fixierten Multikulturalismus", ihrer Auflösung entgegen.

Im ersten Teil des Buches werden die Grundlagen für diese umfassende Kritik gelegt, wird der Boden für entsprechende Argumente vorbereitet. Es wird ein Gang durch die Geistesgeschichte beider Kulturen unternommen. Während das Christentum nicht zuletzt durch die Jahrhunderte der Inquisition Schaden genommen hat und nach Reformation und Aufklärung schließlich den Weg in die liberale Fortschrittsgesellschaft genommen hat, ist der Islam nach Raddatz "intakt" geblieben. Immer noch ist der Koran erste Glaubensquelle, zusammen mit den Hadith (Sprüche und Taten) des Propheten, die Anweisungen für das Zusammenleben enthalten und damit die Verquickung von Glauben und Politik im Islam begründen. Nach Raddatz ist der Islam "unfähig zum offenen Dialog", weil er "ein den Verstand einschließender Glaube" (S.261/ 262) ist. Schließlich war es nach dem Glauben der Muslime so, daß Muhammed als letzter aller Propheten ALLAH gehört hat, zudem ausdrücklich als Menschensohn. Muslime nehmen als Mitmenschen von Muhammad, in der Glaubensgemeinschaft mit ihm und der anderer Muslime, am von ALLAH versprochenen Heil teil. Während in der Moderne des Westens der Individualismus gedieh, Kirche und Staat sich trennten, ist der Islam ganzheitlich konzipiert und so geblieben, sowohl individuelles als auch gesellschaftliches Leben steht unter der Ägide des Islam, nicht nur in der Islamischen Republik Iran ist das so, die sich in ihrer Verfassung auf Allah als oberste Instanz bezieht. Auch in den nach dem Muster und mit Hilfe der Europäer gebildeten zur Welt des Islam gehörenden Nationalstaaten von Algerien über Saudi-Arabien bis nach Pakistan, sind Religion und öffentliches Leben eng miteinander verbunden. Während sich im Westen der Wandel vom christlich-traditionellen zum säkular-autonomen Menschen nach Raddatz "irreversibel" vollzogen hat, sind die Menschen im islamischen Teil der Welt weiterhin religiös und an der "umma" (Glaubensgenossenschaft) orientiert geblieben.

Die Verquickung von Religion und Gesellschaft bzw. Politik ist ein unveräußerliches Merkmal des Islam, von den Anfängen bis in die Gegenwart, und in Zukunft, meint Raddatz, und natürlich auch bei den Muslimen in Europa. Besonders bedrohlich stellt Raddatz die Situation in Deutschland dar. Anders als in Frankreich und in England, wo die zugewanderten Muslime sich zumindest in bezug auf die jeweilige Landessprache integriert übernommen haben, sieht Raddatz bei den nach hier gewanderten Muslimen die in der deutschen Öffentlichkeit kaum wahrgenommene Tendenz, sich nicht nur an der muslimischen Glaubensgemeinschaft, sondern auch was Sprache und Politik angeht, weiter am Herkunftsland zu orientieren und dauerhaft politisch fremdgesteuerte und integrationsresistente "islamische Kulturkolonien" in Deutschland zu bilden.

Für Raddatz ist der Westen in einer schicksalhaften Phase. Was in der Vergangenheit geschah, extrapoliert er in die Zukunft. Tatsächlich hat der Islam seit dem Jahre 623 n. Christus bzw. dem Jahre 1 nach islamischer Zeitrechnung den Niedergang einer Reihe von Kulturen begleitet, darunter die der Kopten, der Aramäer, der Byzantiner. Die vier großen Völker des heutigen Nahen und Mittleren Ostens sind vom Islam wesentlich geprägt worden. Die Araber hat er vereint, die Perser haben ihren altiranischen Glauben völlig aufgegeben. In Abgrenzung zum ursprünglichen Sunnitismus der Araber haben sich die Perser einer anderen Islam-Variante zugeordnet, nämlich dem Schiitismus. Die Kurden leisteten am meisten Widerstand, was letztendlich zu ihrer religiösen Zersplitterung führte, aber auch dazu, daß unter den Kurden die meisten Traditionen des vorislamischen alten Iran noch lebendig sind. Die erst 500 Jahre nach der Heraufkunft des Islam in die Region einwandernden Türken haben dann diesen hingegen ohne Verzug übernommen und bei günstiger Gelegenheit bereits 1258 dessen dann in Bagdad gelegenes Machtzentrum militärisch in Besitz genommen. Nachdem sie 1518 auch das Kalifat (religiöses Oberhauptamt) vom bis dahin arabischen Kalifen übernehmen und daraus ein erbliches Amt machen konnten, haben sie die islamische Welt jahrhundertelang regiert, zuletzt über die Osmanen-Dynastie, aus der sich das Osmanische Reich entwickelte.

Beide Religionen, Christentum und Islam, haben eine wechselvolle Geschichte gehabt. Die Raddatz bewegende Frage ist: Bietet die hiesige Gegenwart mit ihrem deutlichen Verlust überkommener Werte, ja dem bewußten Verzicht auf Eigenkultur im Sinne der liberalen Fortschrittsgesellschaft, derzeit eine Konstellation, die einem zukünftigen Aufgehen im Islam nachhaltig den Boden bereitet? Raddatz sieht das fast zwangsläufig so kommen, nicht zuletzt weil Politiker das Migrationsgeschehen unter dem Blickwinkel des Islam ausgespart gelassen haben und z. B. "die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen zur Einstufung von Religionen mit politischer Relevanz fehlen" (S.415), und die Kirchen auf alle Argumentationsräume von selbst verzichtet haben.

Dem beunruhigten Leser zum Trost sei gesagt, daß Raddatz der liberalen Fortschrittsgesellschaft ein langsames Auflösen vorhersagt. Erst im Zeitrafferüberblick über Jahrzehnte hin wird es auch dem flüchtigen Betrachter nicht entgehen. Aber wenn das in hundert Jahren der Fall ist, dann betrifft es die Lebenden ja nicht mehr. Oder doch? n

Hans-Peter Raddatz: "Von Gott zu Allah? Christentum und Islam in der liberalen Fortschrittsgesellschaft". Herbig, München 2001. ISBN 37766-2212-1. 528 Seiten. Preis: 69,90 Mark.

 
     
     
 
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