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Spätestens seit seiner Studie "Der Weg in den Abgrund" (1995) hat sich der 1959 geborene Theologe und Historiker Karlheinz Weißmann als profunder Kenner der NS-Bewegung einen Namen gemacht. Dieses Urteil gilt ungeachtet de Kampagne, die Vertreter der "offiziellen Geschichts schreibung" gegen Weißmann Werk, das ursprünglich in der renommierten Reihe "Propyläen-Geschicht Deutschland" erschienen war, ins Werk setzten. Dabei spielte wohl weniger Weißmann Studie selbst eine Rolle, als vielmehr die Tatsache, daß Weißmann als dezidierte Vertreter der "Neuen Rechten" gilt. Es bleibt bedauerlich, daß die volkspädagogisierenden Kritiker letztlich Erfolg hatten; Weißmanns Werk wurde aus de Reihe schließlich entfernt. Das hing nicht zuletzt damit zusammen, daß der Axel-Springe Verlag zwischenzeitlich den gesamten Propyläen Verlag übernommen hatte.
Dem Herbig-Verlag ist es zu verdanken, daß Weißmanns "Weg in den Abgrund" dem Interessierten im Buchhandel erneut zugänglich ist.
Weißmanns jüngstes Buch über den "Nationalen Sozialismus", das an diese Stelle anzuzeigen ist, kann als Ergänzung zum "Weg in den Abgrund" gelese werden, legt es doch in aller Breite die ideologischen Wurzeln der NS-Bewegung frei Weißmanns Verdienst ist es, daß er in diesem Buch den Blick für die europäische Zusammenhänge weitet. Zu Recht stellte Herbert Ammon in einer Rezension des Buches in de "Frankfurter Allgemeinen" fest, daß Weißmann durch seine Perspektive de Nationalsozialismus viel von seiner deutschen "Singularität" nehme und dami erneut Anstoß bei der geschichtspädagogischen Kritik erregen werde. Schaut ma allerdings auf die bisherigen Reaktionen, die dieses Buch ausgelöst hat, dürfte eher vo einer Verweigerung der Kenntnisnahme seitens der maßgeblichen deutschen intellektuelle Mandarine die Rede sein.
Was nun versteht Weißmann unter dem Begriff "Nationaler Sozialismus"? E nennt insbesondere drei Charakteristika, die er zu den "wichtigsten Komponenten" zählt: Einen "sozialistischen Nationalismus, den Weißmann auf die jakobinisch Tradition Frankreichs zurückführt. Diese Tradition erklärt denn auch das Leitmotiv, da Weißmann seinem Buch vorangestellt hat. Dieses Motto nimmt eine Feststellung Ma Horkheimers aus dem Jahre 1939 auf, der damals feststellte: "Die Ordnung, die 178 als fortschrittlich ihren Weg antrat, trug vom Beginn an die Tendenz zu Nationalsozialismus in sich."
Als zweite Komponente des "Nationalen Sozialismus" sieht Weißmann "ein Variante des sozialdemokratischen Revisionismus". Diese Variante kreist in erste Linie um die bereits vor dem Ersten Weltkrieg laut gewordene Forderung in de europäischen Arbeiterparteien, ihre Klasse vollständig in die "Volksgemeinschaft" aufzunehmen, um damit den "Klassenkampf" zu beenden.
Schließlich nennt Weißmann den "neuen oder integralen Nationalismus", de an die Stelle des liberalen Patriotismus trat. Dieser Nationalismus verband die Forderun nach einer Integration der Massen in den Staat mit der Vorstellung, daß eine derartig Einbindung nur durch einen "organischen Sozialismus" zu leisten sei. Dies Vorstellung war in der Regel mit der Idee der Steigerung der "soziale Effizienz" im Sinne des Sozialdarwinismus und Sozialimperialismus verbunden.
Weißmann stellt fest, daß die Entstehung der nationalsozialistischen Gruppen un Parteien in Frankreich, Großbritannien, Deutschland sowie Teilen Österreich-Ungarn weitgehend unabhängig voneinander vonstatten ging. Daß die- se Strömungen mit eine gewis- sen Zwangsläufigkeit entstanden, führt Weißmann auf die Industrialisierung un die Auffassung der Nation als "relativ homogenes, seine Mitglieder auc wirtschaftlich sicherndes Ganzes" zurück.
Weißmann zeigt weiter auf, daß der "Nationale Sozialismus" zu keine Zeitpunkt ein klar umrissenes Weltbild hatte. Er hatte zahlreiche Facetten und besa damit ein Maß an Flexibilität, das seine Faszination auch auf Intellektuelle erklärt Dennoch gibt es einige Eckpunkte, die für jede "nationalsozialistische" Bewegung bzw. Partei unverzichtbar waren. Er bejahte die "völkisch Überlieferung" und verneinte die "Gleichheit der Menschen". Die "Egalität blieb ausdrücklich auf die "Volksgenossen" beschränkt.
Wie schon Horkheimers Hinweis auf den Jakobinismus zeigt, kommt Frankreich im Hinblic auf die Geschichte der "nationalsozialistischen" Ideen eine zentrale Rolle zu Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Figur des französischen General Boulanger. Georges Boulanger (18371891), General und Kriegsminister der Dritte Republik, bildete so etwas wie den Kristallisationskern der "Erniedrigten un Beleidigten", die sich im damaligen Frankreich in erster Linie aus den alte Kämpfern der "Kommune", aus kleinbürgerlich-proletarischen Sozialisten un Antisemiten zusammensetzten. Letztere hatten insbesondere bestimmte jüdische Kreis innerhalb der Hochfinanz im Blick, die sie als Drahtzieher hinter den politische Protagonisten der Dritten Republik vermuteten.
Der volkstümliche General wurde schließlich aus Furcht vor einem Staatsstreich seine Kommandos enthoben. Nach seiner Entlassung schuf Boulanger eine Massenbewegung, die Boulangisten, in der sich zum ersten Mal Kräfte der radikalen Linken und Rechten unte der Führung eines charismatischen Führers zusammenfanden. Bezeichnenderweis charakterisierte der französische Schriftsteller André Gide im April 1933 die Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland als einen "Boulangismus, de Erfolg hat".
Katalysatorisch für alle "Nationalen Sozialismen" war der Erste Weltkrie und die Heraufkunft des demokratischen Massenzeitalters. Weißmann beschreibt die europäische Bewußtseinskrise mit ihrer Mischung aus Dekadenz, Sozialdarwinismus Kulturpessimismus und Nietzscheanismus sehr anschaulich in dem Kapitel "Das Ende de alten Liberalismus".
Mehr und mehr bildete sich infolge des Ersten Weltkrieges der "National Sozialismus" als Folge des Kriegssozialismus als dritte Position neben de universalistischen Ideologien eines Lenin und Wilson heraus. Hier kommt zunächst de italienischen Faschismus eine führende Rolle zu, der in mancherlei Hinsicht maßgeben für die NS-Bewegung war.
Weißmanns Verdienst besteht weiterhin darin, die vielschichtigen Faktoren, die fü eine angemessene Erklärung der NS-Bewegung in Deutschland herangezogen werden müssen aufgezeigt zu haben. Alle diese Faktoren müssen in Rechnung gestellt werden, wenn die Frage beantwortet werden soll, warum es gerade der NS-Bewegung gelingen konnte, die Weimarer Republik zu zerstören. Weißmann selbst bringt dies unmißverständlich zu Ausdruck, wenn er schreibt, eine Bedeutung gewinne Hitlers Machtübernahme erst dann, wen man die Perspektive auf die ganze Zwischenkriegszeit ausweite und sich klarmache, da Hitler auch "die Verkörperung einer historischen Tendenz war, die die Zwischenkriegszeit sehr stark bestimmte".
Der Hinweis darauf, daß der "Nationale Sozialismus" mit dem Ende des Dritte Reiches keineswegs beendet war, schließt Weißmanns in jeder Hinsicht instruktive Studi ab. Weißmann verweist in diesem Zusammenhang etwa auf die ägyptische "Silvershirts" unter Nasser oder die großsyrischen Nationalsozialisten, die in der heutigen Baath-Partei aufgegangen sind. Solange es funktionsfähige Nationalstaate gibt, das legt Weißmanns Studie nahe, wird es auch immer wieder Entwicklungen geben, die nationalsozialistische Ideen begünstigen
Stefan Gellner
Karlheinz Weißmann: Der Nationale Sozialismus. Ideologie und Bewegung 1890 bis 1933 Herbig Verlag, München 1998, geb., 368 Seiten, 49,90 Mark |
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