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Was will was darf die EU?

 
     
 
Mit dem politischen Umbruch vor einem Jahrzehnt kam es in Europa auch zur "Wiederentdeckung" der verschiedenen vergessenen Volksgruppen, die in Mittel- und Osteuropa beheimatet sind. Eine Renaissance setzte ein, die in Westeuropa schon in den sechziger Jahren vollzogen worden war, als sich Schotten oder Waliser auf ihre Identität besannen. Das Wiederentstehen alter Nationalstaaten
und blutige Auseinandersetzungen nicht nur im ehemaligen Jugoslawien bewirkten eine rasche Sensibilisierung der europäischen Öffentlichkeit für Fragen des Minderheitenschutzes.

Volksgruppen, etwas unschön meist als Minderheiten bezeichnet, sind Gruppen, die zahlenmäßig kleiner sind als der Rest der Bevölkerung eines Staates und von der Mehrheit abweichende ethnische, religiöse oder sprachliche Merkmale aufweisen, die sie bewahren möchten. Man rechnet auch das Kriterium der Alteingesessenheit (Autochthonität) hinzu, weshalb Einwanderer keine Volksgruppen darstellen.

Europarat und OSZE haben den Volksgruppen im vergangenen Jahrzehnt viel Aufmerksamkeit zukommen lassen. Doch wie hält es die Europäische Union mit den Volksgruppen? Es wird zwar immer öfter gemahnt, daß die EU der Frage des Volksgruppenschutzes einen höheren Stellenwert einräumen solle. So verbietet Artikel 21 der am 7. Dezember 2000 proklamierten Grundrechtecharta die Diskriminierung von Minderheiten. Aber welche Leistungen hat die Union darüber hinaus zum Wohle von Volksgruppen erbracht, was tut sie derzeit? Der Fragestellung wohnt bereits die Erkenntnis inne, daß die EU schon für Volksgruppen aktiv gewesen ist. Interessant ist das deshalb, weil weder der EG-Vertrag (EGV) noch der EU-Vertrag (EUV) der Union hierzu eine Kompetenz übertragen.

Eine Bestandsaufnahme des Geleisteten muß zwei Ebenen betrachten, eine institutionelle und eine geographische. Nachfolgend wird also jede der großen EU-Institutionen (Europäischer Rat [der Staats- und Regierungschefs], [Minister-]Rat, Kommission, Parlament, Gerichtshof) untersucht und dabei auch immer auf den geographischen Geltungsbereich der Handlung hingewiesen, nämlich ob sie sich auf Minderheiten inner- oder außerhalb der EU bezog. Wo immer es sich anbietet, werden Beispiele zu den Auswirkungen auf deutsche Minderheiten, mit denen die Leserschaft vielleicht am ehesten vertraut ist, präsentiert.

(Europäischer) Rat (der Staats- und Regierungschefs): Mit den mittel- und osteuropäischen Volksgruppen in Berührung kam die EU erstmals beim Ausbruch des Krieges in Jugoslawien und beim Zusammenbruch der Sowjetunion. Am 16. Dezember 1991 nahm ein Sondertreffen der EPZ (Europäische Politische Zusammenarbeit), des Vorläufers der GASP (Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik), Richtlinien zur Anerkennung neuer Staaten in Osteuropa und der Sowjetunion an, die Volksgruppenrechte einforderten.

Am selben Tag beschloß die EPZ zudem eine gemeinsame Position zur Frage der Anerkennung jugoslawischer Republiken, die gleichfalls auf den Volksgruppenschutz hinwies. Als Folge der EPZ-Bemühungen hatte Kroatien bereits am 4. Dezember 1991 ein Verfassungsgesetz verabschiedet, das einen Katalog individueller und kollektiver Rechte wie Kultur- und Territorialautonomie enthält.

In den frühen neunziger Jahren begann sich der Volksgruppenschutz von einer Vorbedingung zur Staatsanerkennung zur Vorbedingung einer EU-Assoziierung und schließlich der EU-Mitgliedschaft selbst weiterzuentwickeln. Bei früheren Erweiterungsrunden hatten Volksgruppen in den Beitrittsstaaten, etwa Spanien, keine Rolle gespielt. Eine Ausnahme wurde hinsichtlich der finnischen Åland-Inseln gemacht, die auch nach dem Beitritt Finnlands ihren schwedischen Charakter geschützt sehen wollten. Heute können EU-Bürger ohne die Regionalbürgerschaft Ålands nur mit Zustimmung der örtlichen Behörden Land erwerben und besitzen. In gleichem Maße beschränkt sind das Niederlassungsrecht und die Dienstleistungsfreiheit.

Während die ersten, mit der Tschechoslowakei, Ungarn und Polen 1991 geschlossenen Assoziierungsabkommen noch keine Suspensionsklausel für Verstöße gegen den Volksgruppenschutz enthielten, änderte sich das im Mai 1992 auf Beschluß des Ministerrats für alle nachfolgenden Handels- und Europa-Abkommen mit beitrittswilligen Staaten.

Entscheidend wurden schließlich die Schlußfolgerungen des Europäischen Rats von Kopenhagen, der im Juni 1993 die Voraussetzungen einer EU-Mitgliedschaft skizzierte. Neben Hin- weisen auf die Übernahme des gemeinschaftlichen Besitzstands und die wirtschaftliche Eignung galt fortan eben auch, institutionelle Stabilität, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und den Schutz von Minderheiten zu garantieren.

Allerdings bleibt den EU-Bewerbern ein sehr einfacher Weg, sich der Verpflichtung auf den Volksgruppenschutz wieder zu entledigen: Sie müssen schlicht Mitglied der EU werden, um die Wirkung der Assoziierungsabkommen erlöschen zu lassen. Wegen fehlender Kompetenz in diesem Bereich können sie dann seitens der EU auf keinen bestimmten Standard mehr verpflichtet werden.

Zu einer weiteren wichtigen Wegmarke bei der Entwicklung der EU-Volksgruppenpolitik wurde der Sicherheits- und Stabilitätspakt, den der französische Premierminister Edouard Balladur im April 1993 vorschlug – eine gemeinsame Maßnahme im Rahmen der GASP, war der Pakt doch im wesentlichen eine paneuropäische Konferenz, bei der Grenz- und Minderheitenfragen bi- und multilateral verhandelt wurden. Am Ende der Konferenz stand 1995 ein Europäischer Pakt, der eine Erklärung und 130 bilaterale Abkommen enthielt, unter ihnen der wichtige Grundvertrag zwischen Ungarn und der Slowakei.

Der im Anschluß an die Nato-Intervention auf dem Amselfeld (Kosovo) im März 1999 ins Leben gerufene Stabilitätspakt für Südosteuropa brachte die Kopenhagener Kriterien schließlich in das Verhältnis der EU zu den Staaten ein, mit denen die EU noch kein Kooperationsabkommen geschlossen hatte. Auch in die Beziehungen mit Rußland spielte der Volksgruppenschutz hinein, als nach Beginn des Tschetschenienkriegs 1994 der Abschluß des Interimsabkommens verschoben wurde. Die Schlußfolgerungen des Europäischen Rats von Helsinki im Dezember 1999 bezeichneten den dann schon zweiten Tschetschenienkrieg als völlig inakzeptabel und führten zu einigen kleineren Sanktionen, die das Verhältnis zu Rußland jedoch nicht nachhaltig prägten.

Europäische  Kommission: Schon seit geraumer Zeit betreibt die Europäische Kommission trotz einer fehlenden ausdrücklichen Zuständigkeit für den Volksgruppenschutz ein Programm zur Unterstützung von Regional- und Minderheitensprachen in der EU. Haushaltslinie B3-1006 stützte sich bislang auf die Artikel 149 (Allgemeine und berufliche Bildung und Jugend) und 151 EGV (Kultur), wurde aber am 12. Mai 1998 vom Europäischen Gerichtshof wie viele andere menschenrechtlich ausgerichtete Aktivitäten der EU wegen unklarer Rechtsgrundlage ausgesetzt. Nun wird an einem neuen mehrjährigen Programm "Archipel" laboriert.

Es ist erstaunlich, wie lange das Minderheitensprachen-Programm, das lediglich auf den politischen Wunsch des Europäischen Parlaments eingerichtet wurde, existieren konnte. Seit 1983 hat es sich irgendwo in einer Grauzone zwischen Illegalität und dem "spill over" von Kompetenzen bewegt. In dieser Zeit unterstützte es mit einem bescheidenen Gesamthaushalt (1998: 4 Millionen ECU) kulturelle und bildungsorientierte Projekte, die allerdings in 80 Prozent der Fälle ethnischen Minderheiten in der EU zugute kamen.

Ethnische Minderheiten sind Volksgruppen ohne einen Mutterstaat (z. B. die Basken), während nationale Minderheiten einen solchen haben (z. B. die deutsche Minderheit in Kroatien). Dieses Ungleichgewicht wird man beim Nachfolgeprogramm dringend beseitigen müssen, da auch die (großen) Sprachen nationaler Minderheiten lokal vor dem Aussterben stehen können (man denke nur an die verschiedenen außerhalb Südtirols gelegenen deutschen Sprachinseln in Norditalien).

In Anbetracht des kulturellen Charakters der Hilfsmaßnahmen wird man zu dem Schluß kommen, daß die EU zwar in diesem Fall Kompetenzen usurpiert hat, sie aber wohlwissend um die Brisanz des Themas nicht politisierte. Dies gilt weitgehend auch für das Europäische Büro für Sprachminderheiten (Dublin/ Brüssel), das bei der Ausführung des Sprachförderprogramms als technischer Arm der Generaldirektion Kultur fungiert.

Doch die Europäische Kommission blickt auch über die Grenzen der EU hinaus, indem sie Volksgruppen in den mittel- und osteuropäischen Ländern (MOEL) aus Mitteln der PHARE-Programme unterstützt. Mit dem nationalen PHARE-Programm wurde in der Slowakei beispielsweise eine Pilotschule für Zigeuner eingerichtet. Dies ist ein interessanter Beispielfall, da künftig auch in das Ausbildungswesen anderer Volksgruppen investiert werden könnte. Die wegen extremen Deutschlehrermangels gegen ihre Assi- milation kämpfende deutsche Volksgruppe in der Republik Polen könnte auf diesem Weg Mittel für weitere muttersprachliche Schulen erhalten.

 

Mehr Informationen enthält die Studie "The Minority Policies of the EU", die der Autor am Europa-Kolleg in Brügge verfaßt hat.

 
     
     
 
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