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Wie aus Nassauern Ostdeutschland wurden

 
     
 
Mein lieber Freund! Da wären wir nach einer Reise von drei Wochen endlich in einem Lande angekommen, das ich als das non plus ultra der civilisierten Welt ansehe." So beginnt ein Brief des damaligen preußischen Kronprinzen, der später als "Friedrich der Große" in die Geschichte eingehen sollte, an seinen Freund Voltaire. In diesem Schreiben berichtet der Sohn des preußischen Königs Friedrich Wilhelm I. über das große Aufbauwerk seines Vaters in dem preußischen Land, das die "blühendste aller unserer Provinzen" war, ehe Tataren und Pest es ausbluten ließen: Ostdeutschland. Als der Kronprinz 1739 - ein Jahr vor seinem Regierungsantritt - den Brief an den französischen Freund schrieb, war das große Aufbauwerk seines Vaters fast vollendet, so daß Friedrich weiter berichten konnte: "Gegenwärtig herrscht in der fruchtbaren Provinz mehr Überfluß
als jemals."

Mit dieser Formulierung meint der Kronprinz, daß dieser Teil des noch jungen Königreiches wieder "in allen Arten von Produkten ergiebig war" wie vor den Tatareneinfällen Mitte des 17. Jahrhunderts, bei denen 23000 Menschen getötet und 34000 Personen verschleppt wurden. Kaum begann das verwüstete Land sich langsam zu erholen, kamen Hungerjahre durch Mißwachs und anschließend die große Geißel der Menschheit, die Pest. Als sie 1711 erlosch, war ein Drittel der ostdeutschen Bevölkerung dahingerafft worden. Besonders schwer hatte es den östlichen Teil der Provinz getroffen, das sogenannte Preußisch-Litthauen, ein Gebiet, das etwa den späteren Regierungsbezirk Gumbinnen umfaßte. Von den insgesamt 10000 "wüst gewordenen" Bauernhöfen lagen allein 8000 in dieser Grenzregion, dessen ursprüngliche prußische Urbevölkerung sich mit deutschen und flämischen Siedlern, im nördlichen Teil mit litauischen, im südlichen Gebiet mit masowischen Einwanderern vermischt hatte, die schon zur Ordenszeit in den dünnbesiedelten Raum gekommen waren. Auch im herzoglichen Preußen waren die litauischen "Läuflinge", die sich dem zentralistisch orientierten Polen-Litauen nicht fügen wollten, willkommen, denn sie erwiesen sich besonders beim Roden der großen Wildnis als fleißig und zäh. Daher der Name "Preußisch-Litthauen", das die hessischen Siedler, die der Preußenkönig in das Land rief, kurz "die Littau" nannten.

Sie zogen in diesen östlichsten Teil Preußens, um hier ein besseres Leben zu führen als in ihrer nassauischen Heimat, deren Narben, die der 30jährige Krieg hinterlassen hatte, noch immer spürbar waren. Hinzu kamen Mißernten nach sehr strengen Wintern, dadurch bedingt Teuerung und Hungersnot. Die Sorge um das tägliche Brot bestimmte das kärgliche Leben. Da setzte in den betroffenen Gebieten die Abwanderung ein. Der Strom der Auswanderer ging zunächst nach Amerika, dann aber ostwärts nach Alt-Preußen, dessen Neubesiedlung König Friedrich Wilhelm I. durch sein klug und sorgfältig konzipiertes "Retablissement" anstrebte. Er war, wie sein Sohn in seinem Brief an Voltaire ausführt, bei der Bereisung der verelendeten, entvölkerten Gebiete so von "Mitleiden durchdrungen, daß er beschloß, dieser Gegend Menschen, Überfluß und Handel wiederzugeben".

1710 holte der König die ersten Siedler aus der Schweiz. Dann begann eine planmäßige Werbung in deutschen Landen. Etwa 4000 Bauern zogen 1711/12 in die preußischen Notstandsgebiete. Nach Einsetzung der großen Domänenkommission im Jahre 1721, die jedem Bauern zwei Huben zuteilte, erfolgte kontinuierlich die Besiedlung der betreffenden Gebiete vor allem durch Nassauer. Die größte Ansiedlung einer geschlossenen Volksgruppe erfolgte mit 15000 Salzburger Exulanten im Jahre 1732. Diesen Glaubensflüchtlingen fühlte sich der tief religiöse Friedrich Wilhelm I. besonders verpflichtet. Über sie, die der König persönlich in Berlin mit den Worten begrüßte: "Ihr sollets gut haben, Kinder, bey mir gut haben!", wird noch heute viel berichtet, ihre Nachfahren führen das Erbe fort, auch nach der erneuten Vertreibung, denn schließlich hat jeder sechste Ostpreuße Salzburger Blut in sich.

Dagegen ist über die zweite große Siedlergruppe, die Nassauer, wenig bekannt, schon ihre Zahl ist nicht genau festzustellen, weil sie in den Nationalitäten-Tabellen einiger Ämter zusammen mit anderen deutschen Siedlern und Schweizern geführt wurden. Jedenfalls waren es mehr als 500 Familien - es wird auch die Zahl 800 genannt -, die dem Aufruf der preußischen Werber folgten und sich zur Auswanderung entschlossen. Zuerst waren es Familien aus Nassau-Siegen, dann in größerer Zahl Bauern aus dem Hohen Westerwald und dem Dill- und Lahntal, die sich entschlossen, die Heimat zu verlassen. Es war nicht allein die Not, die sie dazu zwang - das traf zwar auf die Abwanderer aus dem Hohen Westerwald zu, wo die karge Landwirtschaft kaum das Lebensnotwendigste sicherte -, sondern auch Glaubensgründe, denn in Nassau-Siegen wurden die reformierten Landeskinder durch den katholischen Fürsten unterdrückt. Es erwartete sie in den preußischen Aufbauprovinzen nicht nur ein junges, fruchtbares Land, sondern auch bedeutend weitergehende Rechte und Freiheiten. Die nach dem großen Krieg dezimierte Bevölkerung hatte in Nassau wieder stark zugenommen. Der noch fast volklose Raum im Osten versprach den verarmten Bauern und ihren Kindern eine bessere Zukunft.

Die Abwanderung an sich erwies sich vorerst nicht als schwierig. Die Willigen waren freie Bauern, sie konnten ihren Grundbesitz nach eigenem Ermessen verkaufen und fortziehen. Erforderlich war lediglich die Bescheinigung des Pfarrers und Rentmeisters, daß sie ihre Abgaben entrichtet hatten, wie aus einem Gesuch von "sechs Hausgesessenen" aus dem Fürstentum Dillenburg an ihrem Landesherrn hervorgeht:

"Durchlauchtester Fürst, gnädigster Fürst und Herr! Armutshalber möchten unser etliche Familien sampt Weib und Kindern wie auch noch ledigen Geschwistern in die Littau hinziehen. Zehntenpfennig haben wir bei Rentmeister bevor entrichtet auch zu allem, was Euer H. gnädigst befohlen, Richtigkeit gemacht. Und nun wir in nichts mehr einige Hinderung haben, sondern auch noch bitten, daß wir einen guten Paß und Verhaltens-Zeugnis von Euer Hochfürstl. Gnaden und deren Hochfürstl. Cantzley möchten bekommen ..."

Sicher werden die sechs "Hausgesessenen" Paß und Zeugnis erhalten haben und sind in die Littau gezogen. Aber die Zahl der Antragsteller wurde immer größer, so daß man sich in Nassau-Dillenburg schon 1723 gezwungen sah, die Auswanderung zu unterbinden. Es wurde bei unerlaubtem Verlassen mit der Beschlagnahme der Grundstücke gedroht. Aber auch dieses strenge Verbot hielt die Willigen nicht ab, sie wanderten heimlich aus. Sie wurden behördlich nicht erfaßt, mit ein Grund, daß die genaue Zahl der ausgewanderten Nassauer nicht festzustellen ist.

Diejenigen, die mit Brief und Siegel gen Osten gingen, wurden in Halberstadt von den preußischen Behörden empfangen. Zumeist zogen sie in Trupps von mehreren Familien aus ihrer engeren Heimat, wurden verpflegt und erfaßt. In größeren Verbänden ging es dann auf dem Landweg bis Stettin weiter, wo sie eingeschifft wurden. Die Fahrt über die Ostsee wird nicht für alle Nassauer angenehm gewesen sein. Von Königsberg wurden sie in die zugewiesenen Siedlungsgebiete weitergeleitet, die hauptsächlich in den späteren Kreisen Insterburg, Gumbinnen, Stallupönen (Ebenrode) und Darkehmen (Angerapp) lagen. Wer über eigene Gespanne verfügte, zog auf dem Landweg in das östliche Preußen, wo die bereits erbauten Häuser die neuen Siedler erwarteten, die sich als tüchtige Landwirte erwiesen. Die Nassauer hielten eng zusammen und bewahrten lange die heimische Mundart wie zum Beispiel in Drusken, Kreis Stallupönen, wo sie geschlossen angesiedelt wurden. 1724 ließ ihnen König Friedrich Wilhelm I. in Göritten eine eigene reformierte Kirche bauen. Schon vor deren Bau beauftragte der König den Prediger Gottfried Petri, bis zur Auswanderung Oberprediger zu Ebersbach in Nassau-Dillenburg, zur Gründung einer Gemeinde und ernannte ihn zum Hofprediger. Hier fanden die Nassauer ihre Glaubensheimat, so daß sie meilenweit zum Gottesdienst kamen. Mancher Abendmahlsfeier sollen rund 1000 Kommunikanten beigewohnt haben.

Die Verbindung mit der hessischen Heimat ging bald verloren, der Neubeginn in einem so weiten, einsamen Land erforderte alle Kräfte. Aber einige zog es doch zurück, sie sahen ihre Erwartungen nicht erfüllt, vielleicht gefiel ihnen auch nicht die Nachbarschaft mit Menschen, deren Sprache sie nicht verstanden. So baten drei Söhne eines Ausgewanderten aus Rittershausen, daß sie von ihrem hohen Herrn als treue Untertanen wieder aufgenommen werden wollten, weil "sich unsere Eltern, ohngeachtet, daß wir sämtliche Kinder es nicht zufrieden gewesen, durch die höchststrafbaren Verführer vorm Jahr auch nach Litauen zu ziehen verleiten lassen ..." Unter den Rückkehrern befand sich auch eine Anzahl von Ausreißern. Über sie wurde seitens der preußischen Regierung bittere Klage geführt, da "sie heimlich mit Entwendung von Besatzvieh entwichen sind". Sie werden nicht nur des Diebstahls bezichtigt, sondern auch angeklagt, daß sie "boshaft die preußischen Lande freventlich verachten".

Es ist erstaunlich, wie gut nachbarschaftlich die Siedler miteinander umgingen, obgleich sie unterschiedlicher Herkunft waren. So ergibt die Nationalitätentabelle für 1736 für die Kolonisten im Amt Danzkehmen 22 Salzburger, drei Märker, zehn Magdeburg-Halberstädter, zwei Westfalen, einen Pfälzer, zwei Pommern, 13 Nassauer und je einen Anhalter, Preußen und Sachsen. Dazu kommen 46 eingesessene Litauer. Hermann von Boyen schreibt in seinen Erinnerungen: "Im Regierungsbezirk Gumbinnen hatten alle Volkstümer ihre eigenen Sprachen und Sitten, verheirateten sich selten untereinander und lebten doch zufrieden unter einem allgemeinen Landesgesetz: Gehe hin und siehe!" Als im Jahr 1772 Friedrich der Große feststellen konnte, daß jeder wüste Hof besetzt und das Werk endlich und endgültig beendet sei, wurden aus den Bewohnern der Provinz, woher sie auch ursprünglich kamen, die "Ostdeutschland". Und blieben es bis heute.

Hoher Besuch: König Friedrich Wilhelm zu Gast bei seinen neuen
 
     
     
 
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