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Im Südosten Estlands sowie im angrenzenden russischen Gebiet um die Stadt Petschu (russ.: Petschory, estn.: Petseri) ist die Volksgruppe der Setu zu Hause. Wer sich in Brockhaus über sie unterrichten möchte, findet unter dem an einen Indianerstam erinnernden Stichwort "Setukesen" lediglich den Hinweis, daß diese seit de Mittelalter getrennt von den übrigen Esten unter russischer Herrschaf leben. Die "Encyclopaedia Britannica" kennt die Setu überhaupt nicht.
Dem Besucher des Setu-Landes (Setumaa) zeigt schon der erste Blick auf die Physiognomi seiner Bewohner den Unterschied zum mitteleuropäischen Wesen der Esten. Besonder auffallend sind die meist runden Schädel und die leicht schräg gestellten Augen. Die finno-ugrischen Setu sind vor Jahrhunderten aus dem Raum des heutigen Westrußland zugewandert; sie unterscheiden sich von den Esten auch durch ihren russisch-orthodoxe Glauben und eine eigene Sprache, die nur hier gesprochen wird. Sie beinhaltet zwa estnische Elemente, wird aber von den Nordesten nicht verstanden.
In der Literat ur tauchen die Setu erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts auf. Ihr Nam geht wohl auf eine spöttische Bezeichnung durch die Nachbarvölker zurück. Die Forschun erinnert daran, daß August-Wilhelm Schlegel diese Volksgruppe bereits zu Beginn des 19 Jahrhunderts besuchte und seine Beobachtungen in Deutschland weitergab.
Bis zur Auflösung des russischen Zarenreiches gehörte Setumaa zum Gebiet Pleska (Oblast Pskov, estn.: Pihkva) und nicht zu Livland, wie das übrige heutige Südestland Nach dem Ersten Weltkrieg strebte die Setu-Führung zum unabhängigen Estland, und de Landkreis Petseri entstand, der auch einen hohen russischen Bevölkerungsanteil aufwies Noch in den 20er Jahren herrschte dort die russische Lebensweise vor, Schulbildung gab e nicht.
In der mündlichen Überlieferung haben sich viele Sagen und Lieder der Setu erhalten Letztere sind mehrstimmig, was sie in der finno-ugrischen Völkerfamilie mit den Mordwine verbindet. Der erste Schulunterricht begann in der estnischen Schriftsprache. Die frühe russischen Gottesdienste in Setumaa wurden nun auf estnisch gehalten. Allmählic entwickelte sich die Gegend auch kulturell zu einem Teil Estlands. 1922 fand der erst Volkskongreß der Setu statt; auf dem 3. Kongreß in Jahre 1933 wurde dann ei Ältestenrat damit beauftragt, die Erhaltung der eigenen Kultur zu fördern.
Am Ende des Zweiten Weltkrieges okkupierten die Sowjets die Region ebenso wie gan Estland. 1944 verschoben sie die Grenze zugunsten Rußlands. Die Schulen und Bibliotheke der Setu wurden beseitigt, weshalb die Kinder fortan zur Ausbildung nach Estland ginge wo sie dann in der Regel blieben.
Nach der Wiederherstellung der Unabhängigkeit Estlands im Jahre 1991 wurde aus de bisherigen administrativen Einteilung eine trennende Staatsgrenze; ein Drittel de Setu-Dörfer liegt seitdem in der Russischen Föderation. Ursprünglich war Petschur, da heute direkt an der Grenze zu Estland liegt, der Hauptort. Jetzt ist es das 40 Kilomete von Dorpat (Tartu) entfernte Polva.
Die gegenwärtige Grenze wirkt wie die Berliner Mauer: Die Setu sind zersplittert Familien getrennt, Besuche an den Gräbern der Vorfahren gestalten sich oft schwierig. Nu an Feiertagen gibt es Reiseerleichterungen. Dann können estnische Setu, die in Liste erfaßt sind, die Grenze ohne Visum passieren. Die Volkszählung von 1939 hatte eine Zah von 18 000 Setu ergeben, mittlerweile leben in dem zur Republik Estland gehörende Streifen etwa 4000 bis 5000, in der Russischen Föderation 500 bis 1000 und im übrige Estland nochmals zwischen 5000 und 6000 Setu, deren Bindung an die Traditionen allerding fraglich ist.
Im agrarischen Setumaa bestehen große wirtschaftliche Probleme. Die Landwirtschaft die in ganz Estland angesichts der offenen Handelsbeziehungen zum Westen in existentielle Schwierigkeiten steckt, steht besonders unter Druck. Zwar wurden nach de Zwangskollektivierung der Sowjetzeit die Höfe inzwischen zurückgegeben, aber de Absatzmarkt fehlt. Landflucht oder Armut sind die Folge. Verfallene Höfe landwirtschaftlicher Schrott und wilde Müllablagerungen im Wald bieten eine deprimierenden Anblick.
Wie schwer es die Bevölkerung hat, ihren Weg in der neuen Ordnung zu finden, sei a zwei Beispielen erläutert: Eine deutsche Gruppe besuchte im Mai dieses Jahres da Volkskundemuseum der Setu. Der lebhafte Bericht der Leiterin über ihr hauswirtschaftliche Tätigkeit schloß auch ein Lob des eigenen Honigs ein. Auf die dami angeregte Frage, ob man denn welchen kaufen könne, kam die für Estland nicht untypisch Antwort: "Wenn ich gewußt hätte, daß Sie welchen haben wollen, hätte ich ih mitgebracht."
Die wegen der Hitze des Tages sehr durstigen Reisenden sehnten das in einem Gastho vorbestellte Mittagessen samt eines guten estnischen Bieres herbei. Doch bereits bei Zapfen des sechsten Glases bekamen sie das charakteristische Zischen aus dem leeren Fa zu hören. Flaschenbier war auch nicht verfügbar, weil der junge Gastwirt kein Gel hatte, um vorzusorgen. Wenigstens litten die Freundlichkeit des Hauses und die Qualitä des aus dem Pleskauer See stammenden Fischgerichts nicht unter der Kombination au mangelnder unternehmerischer Initiative und fehlendem Geld.
Dem westlichen Gast stellt sich aber nicht nur die Frage, woher der erhoffte Aufschwun eigentlich kommen soll. Ihn bewegt zugleich die Vorstellung, was wohl aus den Eigenarte und dem Lebensgefühl des kleinen Stammes wird, wenn eines Tages schließlich auch in Setu-Land die Ziele und Maßstäbe der modernen Dienstleistungsgesellschaft das Denke bestimmen. Noch genießt die überlieferte Kultur hohe Wertschätzung, sei es in Volkskundemuseum bei Orsava oder durch Volkskunstgruppen wie die von Meremäe. In Värsk findet alle drei Jahre ein Sängerfest der Setu statt, zuletzt 1998. Und alljährlich in August wird an einem Wochenende das "Königreich der Setu" ausgerufen samt gewähltem Regenten, der die Sagengestalt des Königs Peko zu vertreten hat.
Das Epos des Fruchtbarkeitsgottes Peko ist das herausragende Werk der mündliche Überlieferung der Setu; es umfaßt 7975 Zeilen, die von der Sängerin Anne Vabarna bis zu ihrem Tode 1955 bewahrt und aufgezeichnet wurden. Der am Volkskunde-Lehrstuhl de Universität Dorpat wirkende Dr. Paul Hagu hat sich auf die Kultur seines Setu-Volke spezialisiert und das Epos 1995 erstmals in gedruckter Fassung herausgegeben.
Noch eine Besonderheit politischer Art ist bemerkenswert: Zwischen Värska und Saats gibt es einen russischen Zipfel, der in das estnische Territorium hineinragt. Begründe wird dieser Gebietsanspruch mit einem Gehöft, das einem Russen gehört. Der Besuche sieht jedoch nur ungemähte Wiesen, wenn er die Straße entlangfährt, die für Autos vo estnischem Gebiet aus anders als für Fußgänger und Radfahrer fre passierbar ist.
Den Grenzverlauf kennzeichnen Betonpfähle im bekannten Ostblock-Format. Allerding gibt es keine nationale Farbmarkierung, sondern grün-rote Streifen. Nach Osten hin sperr ein etwa zwei Meter hoher Zaun aus vielen Reihen Stacheldraht den Weg. Grenzsoldaten sin nicht zu sehen, doch man meint, ihre aufmerksamen Blicke aus dem Verborgenen zu spüren Eine unheimliche Stille prägt diesen entlegenen Außenposten Mitteleuropas
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