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Tante Martha, die Schwester meines Stiefvaters, war eigentlich gar nicht meine richtige Tante, aber da sie mich in ihr Herz geschlossen hatte, durfte ich Tante zu ihr sagen. Und so lud sie mich auch bei ihrem letzten Besuch in Schloßberg nach Berlin ein, zwei Wochen meiner Sommerferien bei ihr zu verbringen.
Ach, war das eine Freude. Nach Berlin! Wem von meinen Schulkameraden und Spielgefährten war schon solch ein Glück beschieden, die Reichshauptstadt zu besuchen? Man beneidete mich. Je näher der Abreisetag nun rückte, desto aufgeregter wurde ich.
Und dann war es endlich so weit: Den kleinen Koffer in der Hand und den Rucksack geschultert, wurde ich von meiner Mutter zum Bahnhof gebracht. Ihre guten Ratschläge und Wünsche für die Reise vernahm ich kaum, denn im Geist war ich schon in Berlin, obwohl ich überhaupt keine Vorstellung hatte, was mich in der Reichshauptstadt erwarten könnte. Ich konnte gar nicht schnell genug in den Zug kommen, erwischte sogar einen Fensterplatz im Abteil 2. Klasse, in dem sich nur zwei Personen befanden: eine Mutter und ihr Sohn, die mich freundlich aufnahmen, gleich in ein Gespräch verwickelten.
In Königsberg hielt der Zug längere Zeit. Imponierend der große Bahnhof, die vielen Menschen auf den Bahnsteigen, der Duft von Bratwürsten und gebrannten Mandeln aus der Verkaufsbude, genau vor meinem Abteilfenster, zum Greifen nahe. "Wollen wir uns ein Eis kaufen?" fragte Georg, mein Mitreisender, 11 Jahre alt wie ich, der mit seiner Mutter Verwandte in Litauen besucht hatte und auch nach Berlin wollte. "Warum nicht", entgegnete ich und fingerte meinen Brustbeutel hervor, der nicht gerade üppig gefüllt war. "Laß man stecken, mein Junge", sagte Georgs Mutter, erhob sich und holte uns je eine Riesenportion Eis. "Du fährst ganz allein?" fragte sie mich. "Warst du schon mal in Berlin? Eine schöne Stadt. Wir wohnen in Neukölln ." Ich stutzte und sagte: "Nein, ich war noch nie in Berlin, aber was für ein Zufall: Ich will auch nach Neukölln, zu meiner Tante." - "Das ist ja prima!" mischte sich ihr Sohn ein. "Dann können wir uns ja treffen. Ich zeige dir dann Berlin. Schreib dir gleich meine Adresse auf ... Du hast doch nichts dagegen, Mami?"
"Nicht im geringsten, Georg", stimmte sie zu. "Ihr könnt in unserem großen Garten spielen und die Stadt erkunden. Georg kennt sich aus. Er wird schon darauf achten, daß dir nichts passiert."
Der Zug setzte sich wieder in Bewegung. So schnell wie mit Georg hatte ich noch nie zuvor mit einem Jungen Freundschaft geschlossen. Schon jetzt schmiedeten wir Pläne, was in Berlin alles angestellt werden könnte. Monoton ratterte der Zug seinem Ziel entgegen. Plötzlich wieder Halt. Dirschau. Weichselbrücke. Polnischer Korridor. Fensterrollos mußten runtergezogen werden. Uniformierte Polen kontrollierten. Aufregend. Was es wohl da draußen gab, das man nicht sehen durfte? Trotzdem blinzelte ich ab und zu durch einen Spalt.
Wir hatten den Korridor passiert. Rollos hoch. Georg und ich plauderten und plauderten, bis uns die Augen zufielen. Kurz vor Berlin weckte uns Georgs Mutter. Ich wußte gar nicht, wohin ich zuerst schauen sollte: Das riesige Häusermeer, die breiten Straßen, die hohen Schornsteine und vielen Kirchtürme nahmen mich restlos gefangen.
Tante Martha nahm mich am Zielbahnhof in Empfang. Freu-dentränen. Die beiden Damen machten sich gegenseitig bekannt und hatten nichts einzuwenden, daß Georg sich mit mir treffen würde, schon in drei Tagen.
Bei Tante Martha gefiel es mir ausgezeichnet. Sie war eine herzensgute Frau, behandelte mich wie ihren eigenen Sohn. Ihr selbst waren keine Kinder vergönnt gewesen. Wie gern sie mich mochte, merkte ich vor allem an dem mir von ihr zugeteilten Taschengeld. Sie arbeitete in einer Rechtsanwaltskanzlei; ihr Mann war Berufsoffizier. Bereits am nächsten Tag fuhr sie mit mir in den Zoo, zum Brandenburger Tor und besuchte mit mir einen Rummelplatz. Jeden Wunsch erfüllte sie mir. Ich kam mir vor wie im Märchen.
Und dann, es war an einem Sonnabend, traf ich mich mit Georg bei dessen Eltern. Das Arzt-ehepaar empfing mich wie einen alten Bekannten, kredenzte Kaffee und Kuchen und ließ sich einiges über Schloßberg erzählen. Auch mein Vater kam zur Sprache. Da mußte ich passen ... Dann erhob sich Georgs Vater, klopfte uns auf die Schulter, drückte jedem fünf Mark in die Hand und sagte: "So, jetzt haut ab und macht Berlin unsicher, aber keine Dummheiten machen, Georg! Hörst du?"
Nun war ich Georg überlassen, der bereits einen Tagesplan ausgearbeitet hatte. Zunächst fuhren wir mit der Straßenbahn kreuz und quer durch die Stadt, über drei Stunden. Ich konnte mich gar nicht satt sehen. Schließlich glaubte ich, genug gesehen zu haben. So stiegen wir bei der nächsten Haltestelle aus, kauften uns jeder eine Riesenbratwurst und ein Eis. Dann erklärte mir mein neuer Freund schelmisch lächelnd, daß wir gleich zum alten Kanal fahren würden, zum Krebsen.
"Was ist denn das?" forschte ich neugierig.
"Nun sag bloß, das weißt du nicht ... Krebse wollen wir im Kanal fangen. Eine ganz leichte Angelegenheit. Ich zeig dir schon, wie man das macht. Übrigens schmeckt das Krebsfleisch vorzüglich. Vor allem werden wir beim Krebsefangen unseren Spaß haben."
"Na, ich lass mich überraschen", sagte ich irgendwie skeptisch, denn Krebse haben bekanntlich kräftige Scheren, die sie auch einsetzen.
Und nun saßen wir am Ufer des Kanals und beobachteten durch das klare Wasser, wie die Krebse in Ufernähe zwischen den Steinen hin und her krabbelten. Beim Anblick ihrer Scheren wurde mir ziemlich mulmig. Mit denen wollte ich absolut keine Bekanntschaft machen.
"Also, nun erkläre ich dir mal die Fangmethode", holte mich Georg aus meiner Angstträumerei. "Man nähert sich dem Krebs ganz vorsichtig, Daumen und Zeigefinger über ihn zum Zugriff bereit, und wenn die Position am günstigsten ist, schnappt man sich das Tier. Immer darauf achten, daß du den Krebs in der Mitte, seinem Rücken, zu fassen kriegst. Dann fest zudrücken und an Land werfen. Verstanden?"
Ich nickte stumm und machte mich an die Arbeit. Meine Hand zitterte. Jedesmal, wenn ich gerade zuschnappen wollte, entwischte mir der Krebs, weil ich mich offensichtlich zu ungeschickt und ängstlich anstellte. Georg hatte schon fünf Schalentiere an Land geworfen. Sollte ich mich nun restlos blamieren? Doch da, ein verhältnismäßig großer Krebs, der etwas träge dahinkrabbelte. Den nahm ich mir vor. Langsam schob ich Daumen und Zeigefinger dem Rücken des Krebses entgegen und wollte soeben zupacken, als der Krebs blitzschnell wendete und seine Schere in meine Fingerkuppe schlug. Ein heftiger Schmerz durchfuhr mich. In Panik riß ich meinen Arm hoch und versuchte, das Tier abzuschütteln, was natürlich nicht gelang, sondern zur Folge hatte, daß die tief eingegrabene Schere meine Fingerkuppe immer weiter aufschlitzte. Georg behielt die Nerven, schnitt mit einem Taschenmesser die Schere ab und befreite mich aus meiner Notlage. Die Wunde blutete stark. In unserer Not liefen wir zum nächstbesten Haus, wo mir eine nette alte Frau einen festen Verband anlegte. Trotz des schmerzhaften Vorfalls und mit verbundenem Zeigefinger verlebte ich noch schöne Tage in Berlin. Auf Krebsfang bin ich nie wieder gegangen.
Übrigens: Die etwa zwei Zentimeter lange Narbe an meinem rechten Zeigefinger hat sich als Andenken an meinen ungeschick-ten Krebsfang bis heute gut gehalten.
Gerhard Wydra: Der 1924 in Lyck geborene Künstler wuchs im Kreis Johannisburg auf. Viele Male besuchte er in der Vergangenheit seine Heimat und hielt das dort Gesehene mit dem Pinsel fest, so auch eine Begegnung in Gruhsen, Kreis Johannisburg, zwischen Deutschen und Polen |
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