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Abschied von Europa

 
     
 
Europa hat gewählt - oder besser sollte man sagen: Europa hat nicht gewählt! EU-weit sank die Wahlbeteiligung am letzten Sonntag auf magere 45,5 Prozent, in Deutschland auf 43 Prozent, in vielen anderen Ländern lag sie sogar noch darunter. Neu-Mitglied Slowakei steht mit 16,96 Prozent am Tabellenende, die Belgier kamen dank gesetzlicher Wahlpflicht auf 90,81 Prozent.

Fernsehkommentatoren und Politiker gaben sich erstaunt: In Umfragen und Studien habe sich doch immer wieder bestätigt, daß eine zunehmende Mehrheit der Bevölkerung
sich durchaus des überragenden Einflusses der EU auch auf die nationale Gesetzgebung bewußt sei. Daraus nun zu schließen, folglich müsse das Volk doch in Massen und voller Begeisterung an die Wahlurnen strömen, ist ein - unter Politikern weitverbreiteter - Trugschluß. Vielmehr läßt sich aus der scheinbaren Diskrepanz zwischen hohem Europabewußtsein und niedriger Wahlbeteiligung nur ein Schluß ziehen: Das Volk ist offensichtlich weitaus klüger als seine Volksvertreter.

Europäische Institutionen greifen in zunehmendem Maße in das tägliche Leben der Bürger in den nunmehr 25 Mitgliedsstaaten ein. Der auf dem Verordnungswege festgelegte Krümmungsgrad der europäischen Einheitsbanane oder die von Sizilien bis Lappland vereinheitlichte Sitzfläche des paneuropäischen Traktorfahrers sind einprägsame Beispiele dafür. Die vereinigten Europäer wissen genau, wem sie diese und viele andere Segnungen zu verdanken haben: der EU - deutsche Innenpolitik zum Beispiel wird immer weniger in Berlin und immer mehr in Brüssel gemacht.

Die Bürger wissen aber noch viel mehr, offenbar auch einiges, was sie nach Ansicht vieler Politiker eigentlich gar nicht so genau wissen sollten. Sie lassen sich eben nicht vormachen, diese ganze europäische Gesetzes- und Verordnungsflut gehe von einem im klassischen Sinne demokratisch legitimierten Parlament aus. Sie wissen, wer in "Europa" wirklich das Sagen hat: die übermächtige, zentralistische Kommission in Brüssel - und Gipfel und Ministerräte, die regelmäßig im Lande der halbjährlich wechselnden Ratspräsidentschaft tagen.

Das Gemeinschaftsparlament hat sich zwar seit den Anfängen im Jahre 1979 einiges an Kompetenzen erstritten (was durchaus der lobenden Anerkennung wert ist). Es hat auch, durch die Direktwahl, ein gewisses Maß an demokratischer Legitimierung erlangt. Aber es kann aus eigener Macht weder eine "europäische Regierung" einsetzen noch einen Ministerrat oder einen EU-Gipfel zu konkreten politischen Entscheidungen zwingen, es ist nicht wirklich souverän. Das Volk, der eigentliche Souverän also, merkt das, auch wenn die Politiker ihm krampfhaft das Gegenteil einreden wollen. Das Resultat solcher Überlegungen: Die eine Hälfte wählt überhaupt nicht, die andere ist an der Neuwahl des EP ebenfalls reichlich uninteressiert, sondern wählt in Wirklichkeit ihre eigene nationale Regierung ab.

So oder so: Eine breite Mehrheit der EU-Bürger hat sich mit dieser Wahl von Europa verabschiedet, gerade auch in den neuen Mitgliedsländern, deren Politiker doch erst vor wenigen Wochen so überschwenglich ihren Beitritt gefeiert haben. Zumindest bedeuten 54,5 Prozent Nichtwähler eine klare Absage an Brüsseler Zentralismus und Bürokratismus. Wenn unsere Politiker das nicht bald kapieren und Konsequenzen ziehen, werden wir bald Wahlen ohne Wähler haben (was manchen Politikern wohl nicht unangenehm wäre).

Es ist müßig, darüber zu spekulieren, ob Wahlenthaltung der richtige Weg ist. Aber was sollen EU-skeptische - nicht europafeindliche! - Deutsche sonst tun, solange sie keine überzeugenden Alternativen wie in England, Holland oder Österreich haben.

 
     
     
 
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