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Aussitzen

 
     
 
Rußland ist rigoros, wenn es um die Aufarbeitung kommunistischen Unrechts seit 1917 geht. 1996 sind von den zuständigen Stellen der Innenverwaltung der Russischen Föderation 360 000 Rehabilitierungsbescheide ausgestellt worden, im ersten Halbjahr
1997 122 000. Die meisten dieser Anträge wurden von Bürgern gestellt, die nicht durch ein Gerichtsurteil, sondern kraft eines Verwaltungsaktes der politischen Verfolgung während der Herrschaft Stalins ausgesetzt waren. Es handelt sich dabei um Hunderttausende, die als sogenannte Kulaken oder als Angehörige "feindlicher Völker" deportiert wurden. Von den 650 000 Anträgen auf Rehabilitierung des Jahres 1996 stammten 390 000 von Bürgern der Russischen Föderation, die als Kulaken verfolgt oder als "Sondersiedler" verbannt worden waren.

Kulake ist das russische Gegenstück zum deutschen Großgrundbesitzer. Seitdem kürzlich ein russischer Militärstaatsanwalt einem Bodenreformenteigneten gegenüber das Wort "Entkulakisierung" in den Mund nahm, weiß diese Kategorie, wie sie sich in Moskau verständlich machen kann. Denn die Sowjetische Besatzungszone war aus Moskauer Sicht nur ein später Randaspekt der stalinistischen Unterdrückungsmaschinerie, die Fabrikanten- und Großbauernjagd und -vertreibung erreichte hier nicht jenes imperiale Maß und nicht jene massenvernichtende Grausamkeit, dem die französische Forschung unlängst das Attribut des Klassen-Genozids – als Gegenstück zum Rassen-Genozid Hitlers – verabreichte (Courtois: Schwarzbuch des Kommunismus). So reimt sich denn auch alles: Klassenverfolgung und Entkulakisierung ("Entjunkerung") auf der einen, Rassenverfolgung und Entjudung auf der anderen Seite; wobei die Sache in der SBZ, gebremst durch alliiertes Recht, auch bei der Vertreibung und Vernichtung der wirtschaftlichen Existenz steckenbleiben konnte.

Was die Rehabilitierung stalinkommunistisch politisch Verfolgter und die Wiederherstellung ihrer alten Rechte betrifft, liegt Deutschland ganz hinten. Ihre Rechthaber haben die Unrechtsbeseitigung mittlerweile zur arbeitsplatzsichernden Winkeladvokatur erhoben.

Die russischen Reha-Vorschriften waren in rascher Folge gekommen, 1989, 1990, 1991, 1992, 1993. Zuletzt kam der Tschernomyrdin-Erlaß vom 12. August 1994, der die Rückgabe des verfolgungsbedingt verlorenen Vermögens an die Rehabilitierten anordnet. Diese Texte zeichnen sich durch eine umfassende Beschreibung dessen aus, was aus Sicht der Russischen Föderation unter politischem Verfolgungsrecht zu verstehen ist. Erschütternd, was deutsche Behörden und Gerichte daraus machen. Emsig sind sie dabei, das Kommunistenunrecht mittels ihrer Winkeladvokatur zurechtzustricken. Die Techniken ihres willigen Vollendens sind Legion. Da gab es erst die deutsche Erfindung der "Legalenteignung" (Enteignung per Gesetz), die nicht zu rehabilitieren sei. Dann gab es die der "politisch-moralischen", der "leistungslosen Rehabilitierung", welche den Entrechteten mit einem moralischen Küßchen abspeisen soll, dabei das Materielle aber für sich behaltend.  Ähnlich gerechtigkeitsverhindernd ist der 7. Senat des Berliner Bundesverwaltungsgerichts. Es macht Formalismen zur Bedingung für Gerechtigkeit. Ein russischer Rehabilitierungsbescheid müsse sowohl die politisch-moralische Verfolgungskomponente als auch die vermögens-materielle rehabilitieren; wohl wissend, daß die Russen diesem deutschen Verwaltungsperfektionismus nicht entsprechen werden.

Mit diesem spätsozialistischen Gehabe seiner öffentlichen Organe "draußen im Lande" wird sich Deutschland noch schwer tun. Es wächst die Kohl-Administration und ihre Nachfolge allmählich selbst in die Rolle des politischen Verfolgers hinein. Nach jetziger Rechtslage wird sie unweigerlich Vermögensausschlachter auch jener kommunistisch Verfolgter und Enteigneter, welche im sowjetischen GULAG oder den NKWD-Speziallagern (davon elf auf deutschem Boden, circa 112 500 Todesopfer) mit oder ohne Willkürjustiz jahrelang einsaßen, wenn sie überlebten.

Die beiden C-Parteien, zuletzt die CSU bei ihrem Münchner Parteitag, haben unlängst auf Antrag verschiedener regionaler Parteienverbände, darunter München, Hamburg und Frankfurt am Main, Kommissionen gebildet, die die Diskriminierung der Kategorie der 1945/49 Enteigneten im Rahmen ihrer beschränkten legislativen Möglichkeiten abmildern sollen. Die PDS bellt schon. Dies ist zweifellos Ergebnis der unter kräftiger Hamburger Patenschaft gewachsenen  Öffentlichkeitsarbeit.

Die "Geschäftsergebnisse" der Treuhandnachfolge-Gesellschaf-ten und ein Prognos-Gutachten zeigen, daß auch die Restverwertung der Enteignetensubstanz per Saldo ein negatives Ergebnis in Milliardenhöhe einfahren wird. Das "Junkerland" ist zu fast hundert Prozent noch in Bonner Hand, der Wald ist zu circa zehn Prozent verkauft, nach Aussagen der BVVG ein Drittel über mitteldeutsche Strohmänner an westdeutsche Jäger. Insgesamt ist das weithin als "Staatshehlerei" plakatierte Projekt ein Zeitfresser ohnegleichen, die Verwaltungskosten verschlingen die schmutzigen Erlöse. Hinzu kommt, daß das Marktsegment der LPG-Nachfolger ins Schwimmen gerät – durch Präzedenzentscheidungen zweier deutscher Obergerichte und Brüsseler Bedenken gegen deren Teilnahme am "verbilligten Flächenerwerb". Das alles heißt Verwaltungsapparat, Lähmung der wirtschaftlichen Entfaltung, Absterben des Enthusiasmus, Zeitverschwendung – bei fortschreitender Fäulnis des Rechtsstaates. So konnte man seinem Land nicht dienen; ein weiteres Stück Bonner Polit-Trümmer, der sich den anderen zugesellt. H.-D. v. H.

 
     
     
 
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