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Baltische Staaten

 
     
 
Anders als bei Rußland und Polen herrscht bei der Betrachtung der Baltischen Staaten durch politische Amtsträger eher Zurückhaltung; das nördliche Ostdeutschland wird oft schamhaft verschwiegen. Dies ist aus mehreren Gründen unverständlich. Einmal hat sich in jener Ostseeregion über Jahrhunderte deutsche Geschichte ereignet; zum anderen bieten die drei Baltischen Staaten und auch der Oblast Kaliningrad, wie die offizielle russische Bezeichnung für Nord-Ostdeutschland
lautet, zwar unterschiedliche, aber doch interessante Anknüpfungspunkte zur Zusammenarbeit mit Deutschland.

Was die wirtschaftliche Entwicklung angeht, spricht man von einem Nord-Süd-Gefälle, entsprechend der geographischen Lage: Estland vor Lettland, dieses vor Litauen. Unbestritten ist, daß Estland den Weg von der Plan- zur Marktwirtschaft am konsequentesten gegangen ist. Da dies nach dem Muster des Frühkapitalismus geschah, hatten soziale Fragen stets Nachrang. Das völlige Sich-selbst-Überlassen der Landwirtschaft hat zu einem dramatischen Rückgang der Agrarproduktion geführt. Die geringe Arbeitslosenquote (2 Prozent) erklärt sich auch daraus, daß es sich nicht "lohnt", arbeitslos zu sein. Die Unterstützung ist gering und wird nur kurz gewährt, so daß es lukrativer ist, sich im Rahmen der Schattenwirtschaft das für die Existenz Notwendige zu beschaffen. Die nach der Wende auch hier eingetretenen Krisen (belastete Regierungsmitglieder, Bankenzusammenbrüche) sind bewältigt worden, wohl auch, weil das Land eine rechtsstaatliche Tradition hat, die selbst durch die kommunistische Herrschaft nicht vollends verlorengegangen ist. (Im Mai wurde in Anwesenheit von Bundespräsident Herzog die 750-jährige Wiederkehr der Einführung des Lübecker Stadtrechts gefeiert.) Ferner gibt es einen weitreichenden Konsens unter den politischen Parteien, die sich alle der "Mitte" zugehörig fühlen, deren stärkste allerdings nur 16 Prozent der Stimmen auf sich vereinigt – eine Erscheinung, die zu immer wieder anderen Koalitionen führt. Eine postkommunistische Gruppierung von Belang existiert nicht.

Kein Wunder, daß Estland als erster und einziger Staat der drei Baltenrepubliken aufgefordert wurde, in Verhandlungen um einen EU-Beitritt einzutreten. Ob dies im Verhältnis zu den beiden anderen geschickt war, kann bezweifelt werden. Eine natürliche Rivalität, das Gefühl, zurückgewiesen zu sein, und eine gewisse Demotivation sind nicht zu übersehen. Der Startschuß wäre besser für alle drei gleichzeitig erfolgt. Wer dann zu welchem Zeitpunkt die Ziellinie erreicht, ist eine andere Frage. Deutsche erfahren bei der Grenzabfertigung, was eine Retourkutsche ist. Weil es im Verhältnis zu Polen eine Visafreiheit gibt, dies aber den Esten versagt wurde (weil man fürchtet, über ihre Grenzen kämen womöglich Kriminelle), zeigen sie, wie man Grenzen sicher und undurchlässig macht.

Bei aller Anerkennung der Leistung Estlands darf nicht übersehen werden, daß hier auch die Gefahr der Überhitzung der Konjunktur besteht. Die insgesamt 1,6 Millionen Einwohner (davon rund 500 000 russischer Abstammung) müssen irgendwann an die Grenzen ihrer Möglichkeiten stoßen, fremde Investitionen aufzunehmen und als Partner zur Verfügung zu stehen. In Tallinn herrscht in manchen Bereichen bereits Knappheit an Arbeitskräften.

Eine solcher Mangel besteht in Lettland nicht. Hier sind noch ausreichende Kapazitäten vorhanden. Mit seinen 2,6 Millionen Einwohnern und einer – ebenso wie in den beiden anderen Staaten – gut ausgebildeten Bevölkerung ist noch auf längere Sicht "man-power" vorhanden. Man sollte sich erinnern: in der Sowjetunion waren die drei Länder unangefochtene Spitzenreiter bezüglich der wirtschaftlichen Erfolgsdaten. Diese mögen geschönt gewesen sein; in der Tendenz jedenfalls sagten sie zutreffend aus, daß die Baltischen Sowjetrepubliken eindeutig vorn lagen.

Wer Riga besucht, ist jedesmal erneut überwältigt. Nicht nur die deutsche Hansestadt ist präsent, auch ein Flair, dessen sich keine westeuropäische Großstadt zu schämen bräuchte. Wir lesen hingegen, wenn überhaupt, von Problemen mit der großen russischen Minderheit und von der Armut. Diese bedrückende Situation kann nur überwunden werden, wenn die wirtschaftliche Lage sich positiv verändert und auch soziale Probleme nicht mehr verdrängt werden. Das Gefälle zwischen Riga und dem Land ist sehr extrem. Mancher Besucher mag sich über bestimmte Erscheinungen wundern, die an die Gepflogenheiten der kommunistischen Zeit erinnern. Nur: wie schnell oder langsam so etwas abzuschütteln und zu überwinden ist, können wir im eigenen, vereinigten Land lernen. Und: um wieviel anders und schlechter es auch sein kann, ist im Königsberger Gebiet zu besichtigen.

Nach einer ersten Euphorie, als man von einem Hongkong an der Ostsee sprach, als Vorschläge einer Freihandelszone ernsthaft erörtert wurden, kehrte Resignation und Apathie ein. Und dennoch: es keimt wieder neue Hoffnung auf. Das vor allem Königsberg beherrschende "Grau" verschwindet allmählich, überwunden nicht nur durch farbige Reklameschilder. Der Baufortschritt am Königsberger Dom ist handgreiflich, die Handelskammer Hamburg hat eine Außenstelle eingerichtet, private Unternehmer bestimmen das Bild, ebenso wie zweimal täglich eine Rush-hour mit fast ausschließlich in Deutschland produzierten Autos. Dennoch beschleicht den Betrachter die Sorge, wie es hier weitergehen soll, solange "Moskau" nicht erkennt oder sagt, welche Chance das Gebiet hat und haben soll. Es darf kein Loch in einem sich entwickelnden Europa entstehen. Dies aber wäre der Fall, wenn Polen und Litauen Mitglied der EU werden. Damit dieses Gebiet nicht zu einem Hinterhof Europas verkommt (von Berlin ist es näher nach Königsberg als nach Stuttgart, bedarf es einer Initialzündung. Bei aller Skepsis, was russische Impulse angeht: wenn die Bevölkerung dort erkennt – und dies ist am ehesten von jungen zuwandernden Russen zu erwarten –, daß der Abstand zu den Nachbarn nur zu verringern ist, wenn die Oblast ein Brückenpfeiler zwischen dem westlichen Europa und Rußland wird, kann dies zu einem Reflex führen, der Bewegung in die erstarrte Politik bringt. Hier ist Geduld gefordert, weil ein Drängen, vor allem aus Deutschland, das Gegenteil bewirkt. Aber wer hätte vor zehn Jahren geglaubt, daß man heute selbst in dem mit vor sich hin rostenden Kriegsschiffen reich bestückten Pillau über solche Fragen reden kann und nicht der militärische Hafenkommandant das Wort führt, sondern der zivile Planungschef!

Trotz manch kleiner Hoffnungsschimmer bleibt das Gesamtbild bedrückend, vor allem wenn man sich das Gefälle zum flachen Land vergegenwärtigt. Dabei wäre hier zu beginnen. Solange die Bevölkerung dieses Gebiets durch Nahrungsmittelimporte versorgt werden muß und es nicht der Landwirtschaft der einstigen "Kornkammer des Reiches" gelingt, dieses Problem zu lösen, ist die Grundvoraussetzung für eine positive Entwicklung nicht erfüllt.

Litauen, mit seinen 3,7 Millionen Einwohnern, hat wegen des geringen russischen Anteils an der Bevölkerung (7 Prozent) einige Probleme nicht, welche die anderen baltischen Staaten beschäftigen. Wer den Berg der Kreuze in der Nähe von Schaulen sieht, kann nachvollziehen, welche Widerstandskraft der Katholizismus diesem Land verleiht. Am Beispiel Litauens wird besonders deutlich, welche Chancen Deutschland im Verhältnis zu diesem Teil der Ostseeregion bisher nicht wahrgenommen hat. Deutsch ist als Fremdsprache begehrt – nach Englisch, vor Russisch (jeder 4. Schüler lernt deutsch). Die kulturellen Aktivitäten Deutschlands lassen zu wünschen übrig. Frankreich hingegen hat in Vilnius ein eigenes Kulturinstitut. Das Land bietet sich wegen seiner geographischen Nähe zu Deutschland und der relativ kurzen Seewege besonders für Investitionen zur Produktion an. Die Löhne müssen – schon mit Rücksicht auf die dort arbeitende Bevölkerung – keine sogenannten Billiglöhne auf tiefstem Niveau bleiben, aber sie werden, anders als zum Beispiel in der Tschechischen Republik, sich auch auf lange Sicht nicht so sehr denen in Deutschland annähern, daß es wirtschaftlich nicht mehr lohnend wäre, dort zu produzieren.

Über die Gemeinsamkeiten, mehr noch über die Unterschiede der hier skizzierten Ostseeanrainer wäre viel zu sagen. Vielleicht illustriert das folgende Beispiel von der "Kultur" des Bettelns die Situation: Im Gebiet Königsberg ist es drängend, fordernd; in Litauen weniger aggressiv; in Lettland still, und in Estland wird es verbunden mit dem Angebot relativ wertloser Kleingegenstände, immerhin mit einer "Leistung". Auch dies kann als ein Zeichen eines "Gefälles" gewertet werden.

Die Sorge der drei Baltischen Länder, von ihrem übermächtigen Nachbarn vereinnahmt zu werden, so wie es in der Geschichte wiederholt geschehen ist, und unser Interesse an einer Zone des Übergangs von West- nach Osteuropa weisen Übereinstimmendes auf. Deshalb sollten wir dazu beitragen, daß jene Region besser in das Bewußtsein tritt und mit ihren Möglichkeiten wahrgenommen wird.

 

 
     
     
 
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