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In England gilt Polen nach seiner Teschen-Annexion politisch vorerst einmal als Schurkenstaat. Da baut Hitler den Polen selber eine Brücke, sich England anzuschließen. Am 16. März 1939, unmittelbar nach dem Zerfall der Tschechoslowakei in drei Staaten, läßt Hitler deutsche Truppen in die "Rest-Tschechei" marschieren und macht die Tschechei zum "Protektorat". Hitler annektiert mit der Tschechei erstmals ein nicht deutsches Land. Er handelt damit gegen das Selbstbestimmungsrecht der Tschechen, gegen den ausdrücklichen Willen Frankreichs und Englands, er bricht seine diesbezüglich gegebenen Versprechen und gibt so den Regierungen Englands, Frankreichs und der USA einen Vorwand, den Anschluß der deutschen Stadt Danzig an das Mutterland zu hintertreiben.
Polens Außenminister Beck nutzt die Verärgerung der Briten und bittet die Londoner Regierung um ein Schutzabkommen gegen Deutschland. Die Briten sagen zu und Polen schwenkt von jetzt auf gleich zu neuen Gepflogenheiten gegenüber Deutschland um. Statt wie im deutsch-polnischen Vertrag von 1934 vereinbart, die bilateralen Streitigkeiten zu verhandeln, macht die polnische Regierung noch im März 1939 ihre Truppen teilmobil und läßt Heereskräfte vor Danzig aufmarschieren, über das nun eigentlich verhandelt werden sollte. Zu dieser Zeit gibt es von deutscher Seite noch keine einzige Drohung gegenüber Polen und keine Angriffspläne.
Die provozierende Mobilmachung und das Dazwischentreten Englands nehmen Hitler in den letzten Märztagen 1939 jede realistische Hoffnung, in der Danzig-Frage auf dem bisher eingeschlagenen Verhandlungsweg allein zum Ziel zu kommen. Er setzt jetzt die militärische Option neben weitere Verhandlungen und läßt einen Angriff gegen Polen vorbereiten. Am 3. April 1939 gibt Adolf Hitler die Weisung für den Fall Weiß. Es ist der Auftrag an die Wehrmacht, einen Angriff gegen Polen so vorzubereiten, daß er ab dem 1. September 1939 möglich ist. Der politische Zusammenhang für die gegebene Weisung findet sich in Ihrer Ziffer 1: "Das deutsche Verhältnis zu Polen bleibt weiterhin von dem Grundsatz bestimmt, Störungen zu vermeiden. Sollte Polen seine bisher auf dem gleichen Grundsatz beruhende Politik gegenüber Deutschland umstellen und eine das Reich bedrohende Haltung einnehmen, so kann eine endgültige Abrechnung erforderlich werden." Polen tanzt ab diesem 3. April auf dem Vulkan.
In Polen beurteilt man die Dinge derweilen völlig anders. Am 5. Mai 1939 begründet Außenminister Beck seine Politik des Status quo und der Abweisung der deutschen Forderungen vor dem Sejm, dem Parlament in Warschau. Der Status der Stadt Danzig - so sagt er - beruhe nicht auf den Verträgen von Versailles, sondern auf der jahrhundertelangen Zugehörigkeit der Stadt zu Polen. Das Angebot der deutschen Reichsregierung, alle Gebietserwerbungen ehemals deutscher Territorien durch Polen nach dem Ersten Weltkrieg als endgültig polnisch anzuerkennen, sei kein Angebot. So sei die deutsche Forderung nach Danzig und nach exterritorialen Transitwegen nichts anderes als ein Nehmen ohne Gegenleistung. Als Quintessenz schließt Beck: "Eine Nation, die sich selbst achtet, macht keine einseitigen Zugeständnisse."
Der englische Botschafter in Berlin Henderson beurteilt das zur gleichen Zeit ganz anders. Er schreibt am 4. Mai 1939 an seinen Minister Lord Halifax in London: "Wieder einmal ist die deutsche Sache weit davon entfernt, ungerechtfertigt oder unmoralisch zu sein ... Meine These war immer, daß Deutschland nicht zur Normalität zurückkehren kann, ... solange nicht seine legitimen Forderungen erfüllt worden sind. Die Danzig-Korridor-Frage war zusammen mit dem Memelproblem eine von diesen. ... Nach Aussage meines belgischen Kollegen betrachten fast alle diplomatischen Vertreter hier das deutsche Angebot als ein überraschend günstiges."
Sehr zum Nachteil Polens wendet sich Adolf Hitler nun von seiner bisherigen kleinen Danzig-Lösung ab und hin zu einer großen Polen-Lösung. Was noch schwerer wiegt, er bezieht Polen von jetzt an in seine bis dahin nur vagen Vorstellungen vom "Lebensraum im Osten" ein.
Was nun folgt, ist wie der Rutsch auf schiefer Ebene. Im Juni und Juli 1939 nehmen die Drangsalierungen der Minderheiten in Polen, die Grenzzwischenfälle und der Nachdruck, mit dem die Danziger ihren Anschluß an das Mutterland verlangen, derart zu, daß ein spannungsfreies Verhandeln zwischen der polnischen und der deutschen Regierung nicht mehr möglich ist. Ab Ende Juli 1939 belastet ein Streit zwischen Polen und dem Danziger Senat um den Zolldienst im Freistaat zusätzlich das deutsch-polnische Verhältnis. Der Danziger Senat gibt auf Anraten Hitlers nach, und polnische sowie französische Zeitungen berichten, Hitler sei vor der festen Haltung Polens in die Knie gegangen. Der Streit beginnt nun auch psychologisch abzugleiten.
In den letzten Wochen vor dem Kriegsausbruch versucht Hitler, den Polen die Pistole auf die Brust zu setzen, indem er sofortige Verhandlungen über die deutschen Forderungen verlangt und mit Krieg droht, sollte Polen ein Entgegenkommen verweigern. Der polnische Außenminister erklärt sich am 28. August zu Verhandlungen bereit, weicht diesen in den Folgetagen aber aus. Am 30. August schiebt Hitler ein neues Angebot - wie es die Deutschen nennen - beziehungsweise eine neue Forderung - wie es die Polen sehen - nach. Hitler will die Briten noch auf seine Seite ziehen und läßt deshalb für die Polen eine Brücke stehen, über die sie gehen könnten. Der neue Vorschlag ähnelt den vorausgegangenen. Er fordert nach wie vor den Anschluß Danzigs an das Reich. Doch er verlangt - das ist nun neu - auch eine Volksabstimmung für die Menschen im sogenannten Korridor. Die demokratische Entscheidung der betroffenen Bevölkerung müßte England akzeptieren, so ist Hitlers Hoffnung. Der neue deutsche Vorschlag umfaßt 16 Punkte. Die wesentlichen sind:
"... 2. Das Gebiet des sogenannten Korridors ... wird über seine Zugehörigkeit zu Deutschland oder Polen selbst entscheiden.
3. Zu diesem Zweck wird dieses Gebiet eine Abstimmung vornehmen. ... Zur Sicherung einer objektiven Abstimmung ... wird dieses Gebiet einer sofort zu bildenden internationalen Kommission unterstellt, die von den vier Großmächten Italien, Sowjetunion, Frankreich und England gebildet wird.
4. Von diesem Gebiet bleibt ausgenommen der polnische Hafen Gdingen, der polnisch bleibt.
... 8. Um nach erfolgter Abstimmung - ganz gleich wie diese ausgehen möge - die Sicherheit des freien Verkehrs Deutschlands mit seiner Provinz Danzig-Ostdeutschland und Polen seine Verbindung mit dem Meere zu garantieren, wird, falls das Abstimmungsgebiet an Polen fällt, Deutschland eine exterritoriale ... Reichsautobahn sowie eine viergleisige Eisenbahnlinie gegeben ... Fällt die Abstimmung zugunsten Deutschlands aus, so erhält Polen zum freien und uneingeschränkten Verkehr nach seinem Hafen Gdingen die gleichen Rechte."
Hitler verbindet diesen Vorschlag mit einem Ultimatum für den Gesprächsbeginn. Die polnische Regierung lehnt es ab, unter gesetzter Frist mit der deutschen zu verhandeln. Einen Tag und fünf Stunden nachdem das Ultimatum für den Beginn neuer deutsch-polnischer Gespräche ergebnislos verstrichen ist, marschiert die Wehrmacht in Polen ein. Zwei Tage später, am 3. September 1939, erklären England und Frankreich daraufhin Deutschland den Krieg. Am 17. September greift die Sowjetunion Polen an.
Der französische Historiker Rassinier schrieb nach dem Kriege: "Hätten das französische und das britische Volk am 30. August von diesen deutschen Vorschlägen Kenntnis gehabt, so hätten Paris und London kaum den Krieg an Deutschland erklären können, ohne einen Sturm der Entrüstung hervorzurufen, der den Frieden durchgesetzt hätte."
Am 10. Juli 1940, nachdem die französische Armee zehn Monate nach der französischen Kriegserklärung an Deutschland von der Wehrmacht geschlagen worden war, sagte Pierre Laval, stellvertretender Parlamentspräsident, auf der ersten Nachkriegssitzung der französischen Nationalversammlung in Vichy: "Das größte Verbrechen, das in unserem Land seit langem begangen wurde, ist sicherlich die Kriegserklärung gewesen ... Sie wissen wohl, daß man nicht einmal wußte, warum man sich schlug".
Pierre Laval: Auf der ersten Nachkriegssitzung der französischen Nationalversammlung bezeichnete deren damaliger stellvertretender Präsident die Kriegserklärung seines Staates an das Deutsche Reich als das sicherlich "größte Verbrechen, das in unserem Land seit langem begangen wurde". |
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