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Wolf Müller samt Frau und Kindern hat sich mittlerweile in ihrem ostdeutschen Feriendomizil eingelebt. Sie wissen, wo und wie der Supermarkt ist, wo man Fisch kaufen und gut essen kann und die wunderbaren Sahneschnitten mit Früchten bekommt, wann Markt ist in Angerburg und wo die Polizei blitzt. Daß es ganz in der Nähe einen Soldatenfriedhof gibt, hoch über dem See inmitten breitastiger Kiefern, erfahren sie erst ziemlich spät, von einem Deutschen, der bei ihnen unten im Haus wohnt, regelmäßig hier Urlaub macht und sich nicht nur, was Geschichte angeht, dementsprechend gut auskennt.
Es ist Sonntag. Es ist herrliches Sommerwetter. Nachdem Frühstück im Freien machen sie sich auf den Weg zu jenem Friedhof, den sie jetzt, wo sie es wissen, am anderen Seeufer ausmachen können. Sie gehen vielleicht eine halbe Stunde immer nahe am See, vorbei am Wasserwirtschafts amt, einem soliden Gebäude aus der Vorkriegszeit, und leicht ansteigend schließlich zu jener Ansammlung von mächtigen Kiefern, die aus dem sonstigen, eher jungen gemischten Bewuchs auffällig herausragen. Das sind alte Bestände, vermutlich aus der Zeit um 1915, in der wohl der runde, von einer niedrigen massiven Mauer umgebene Friedhof angelegt worden ist. In der Mitte steht ein großes Kreuz, neueren Datums. Die Anlage ist erst wieder in den letzten Jahren restauriert worden – bei Gräbern aus dem Ersten Weltkrieg geht das offensichtlich. Damals kämpften ja auch Deutsche gegen Russen, nicht gegen Polen.
Polen als Staat existierte überhaupt noch nicht wieder, schon seit 1795 nicht mehr! Die polnische Nationalhymne beginnt nicht ohne Grund mit dem sehnlichen Wunsch: „Noch ist Polen nicht verloren!“ Der überwiegende Teil der polnischsprachigen Gebiete gehörte zum Zarenreich, war russische Provinz. Erst nach der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg entstand wieder ein polnischer Staat, damals auch schon auf Kosten deutscher Gebiete, etwa Ostoberschlesiens. In Masuren gab es immerhin eine Volksabstimmung. Weit über 80 Prozent stimmten für den Verbleib beim Deutschen Reich, obwohl sich Polen wegen der vielen slawischstämmigen Masuren Hoffnung gemacht hatte. Nach dem Zweiten Weltkrieg dann erfolgte eine regelrechte Westverschiebung des polnischen Staates in die deutschen Ostprovinzen Ostdeutschland, Pommern und Schlesien. Ein Drittel des Reichsgebietes ging verloren. Eine über 700jährige deutsche Zivilisation wurde ausgelöscht. 14 Millionen Deutsche mußten ihre angestammte Heimat verlassen. Zwei Millionen kamen dabei um.
Familie Wiechert geht die einzelnen Grabsteine ab. Der Name Sommerfeld taucht mehrmals auf, einer von seinen Vorfahren hieß so. Mittlerweile sind auch polnische Ausflügler da. Von hier aus hat man hat einen herrlichen Blick über die Seen. So ist diese Anlage als Ort der Besinnung und Erholung zu Recht wieder saniert worden, der Sinn von Sammlungen für den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge (VDK) am Volkstrauertag auch den Wiechert-Kindern besonders klar geworden.
Ihr Urgroßvater war Zeitzeuge des damaligen deutsch-russischen Kampfes um Ostdeutschland, bei dem die hier liegenden Soldaten gefallen sind. Im Gegensatz zu seiner Familie war er nicht vor den russischen Eroberern geflüchtet, und hat so die russische Besatzung erlebt. Schon damals sollen die Russen geplünderte und abgefackelte Häuser, aufgeschlitzte Betten und zerschlagene Waschbecken hinterlassen haben. In der Bibel von Wolfs Großvaters gibt es zahlreiche Eintragungen aus diesen Kriegstagen, darunter diese: „In der Angst rief ich den Herrn an, und der Herr erhörte mich, und tröstete mich. (Psalm 118, 5)“ Daneben steht mit Bleistift geschrieben: „13. 9. 14“. Das ist nun über 90 Jahre her. Aus dieser Bibel lesen die Wiecherts noch immer und im Bewußtsein der Einzigartigkeit dieses Familienstücks, das gerettet wurde, am Heiligen Abend die Weihnachtsgeschichte: „Es begab sich aber zu der Zeit …“, im plastischen, unverfälschten Lutherdeutsch mit strengem Genitiv und vokalreichen, altertümlichen Verbformen: „Und es waren Hirten in derselbigen Gegend auf dem Felde bei den Hürden, die hüteten des Nachts ihrer Herde … Und die Hirten kehreten wieder um, preiseten und lobten Gott um alles, das sie gehöret und gesehen hatten, wie denn zu ihnen gesagt war.“
Die Spurensuche in Ostdeutschland führte die Familie Wiechert auch nach Bartenstein. Die Vorfahren mütterlicherseits hatten dort ab dem 16. Jahrhundert gelebt, waren in der nahen Kirche von Moltheinen getauft, konfirmiert und zur letzten Ruhe geleitet worden.
Auf dem Friedhof ist nichts mehr zu sehen. Vergeblich suchten die Wiecherts in dem verwilderten Gelände nach Grabsteinen. Alle Steine mit deutschen Inschriften sind nach einem Erlaß der polnischen Regierung frühzeitig zerstört worden. Auch auf dem Gedenkstein für die Gefallenen der Kriege sind die Inschriften zerstört.
Der Hof der Eltern, einer geborenen Plaumann, ist noch im Original erhalten, das heißt das alte Wohnhaus, dessen mit Schilf gedecktes Dach fast bis zum Boden reichte, haben die jetzigen Besitzer abgerissen. Aber das Gesindehaus beziehungsweise Altenteil, in dem die Polen jetzt wohnen, ist bis auf ein paar häßliche Veränderungen so erhalten geblieben wie es früher war, die alten Türen, die alten schönen Beschläge, wohl auch das Kaffeeservice, das man den Wiecherts vorsetzt. Denn auch hier werden Wolf Wiechert, seine Frau und seine Kinder herzlich empfangen, müssen sie die Alben mit den Hochzeitsbildern der Kinder ansehen, die in Drengfurt in der alten Ordenskirche geheiratet haben. Sie gehen im aufgeweichten Hof herum bis zum Teich hinter der Scheune, dem Poggenteich, sehen die leeren Storchennester. Und als Wolf Wiechert auf dem Gelände des ehemaligen Wohnhauses steht, wo jetzt Holz herumliegt, muß er an seine Mutter denken, die immer wieder erzählte, wie sie sich erschrocken hatte, als sie 1912 zur Beerdigung ihres Großvaters August Plaumann nach Bieberstein in das alte Haus kam und dort ihren Großvater im schwarzen Anzug aufgebahrt liegen sah, mit langem, breitem weißen Bart, der ihr wie ein Bettsack vorkam.
Der älteste Sohn Friedrich wollte den Hof nicht haben, überließ ihn seinem jüngeren Bruder und kaufte sich das viel größere alleinstehende Anwesen Meistersfelde, nicht weit von Bieberstein. Im Giebel einer Scheune stand noch bis vor wenigen Jahren „F 1915 P“. Die Plaumanns wirtschafteten gut. Während der Onkel für die Landwirtschaft zuständig war, hielt die Tante besonders viel auf ihren Garten, die Rosen vor allem.
1945 übernahm der Knecht den Hof und fuhr die alt gewordenen Besitzer mit deren Pferdefuhrwerk auf den Bahnhof. Sie wurden ausgewiesen und sind irgendwo unterwegs verhungert.
Der ehemalige Knecht und jetzige Besitzer des Hofes, mittlerweile selbst alt geworden, bot Wolf Wiechert und seinem Bruder vor zwei Jahren schon das Anwesen zum Kauf an, für einige Millionen Zloty. Jetzt lebt er in der Stadt, und eine neue Generation ist offensichtlich nachgezogen. Dieser Besitz hat was Herrschaftliches, wie man an dem schön verzierten Ofen und dem mächtigen Kronleuchter, die immer noch ihren Dienst tun, sehen kann.
Der einzige Sohn Friedrich fiel im Krieg, seine sterblichen Überreste wurden von der Front auf den kleinen Friedhof gleich gegenüber überführt. Sein Grab haben die Wicherts bei ihrem Besuch vergebens gesucht. Auch hier sind alle Steintafeln, auf denen die Inschriften standen, verschwunden, nur einige Sockel liegen noch zwischen den groß gewordenen Bäumen. Einen davon haben sie mitgenommen und in den heimischen Steingarten gestellt, ein Stück Heimat, ein trauriges Relikt freilich. Aber sie hatten nicht gerade viel zur Auswahl.
Die Veranda vor dem Haus steht noch so wie vor 60 Jahren, die Verzierungen, die Fenster, alles ist noch so wie auf dem alten Foto, wo Wolf Wiecherts Mutter mit Onkel und Tante davor stehen. Als er das Foto den heutigen Besitzern zeigt, freuen sie sich, und als sie den deutschen Ortsnamen Meisterfelde hören, leuchtet’s geradezu auf, wiederholen sie den Namen, hatten ihn wohl schon mal gehört. Die Tochter hat Deutsch auf der Schule gelernt. Es gibt offensichtlich verwandtschaftliche Verbindungen in die Bundesrepublik Deutschland. Jetzt stehen ihre Familienfotos auf dem Gesims des schön verzierten Ofens.
So hat Wolf Wiechert seinen Kindern auch diese Orte ihrer ostdeutschen Herkunft gezeigt, von der sie bewußt oder unbewußt einiges mitnehmen werden. Und sie haben sehen können, daß man materiell alles verlieren kann, unschuldig übrigens, stellvertretend für ein ganzes Volk, das ein Drittel seines Staatsgebietes verloren hat. Dies alles unmittelbar zur Anschauung gebracht zu haben, macht Wolf Wiechert froh an diesem Abend. ,Das schaffen nicht sehr viele‘, sagt er sich, ,oder wollen es denn auch gar nicht‘. W. W.
Fotos: Wolf Wiechert vermittelte seinen Kindern, daß man stellvertretend für ein Volk ohne Schuld materiell alles verlieren kann
Der Besuch eines Soldatenfriedhofs verdeutlicht den Kindern den Sinn der Volkstrauertagssammlungen des VDK
Wolf Wiechert mit seiner Tochter auf dem Hof seines Onkels Friedrich in Meisterfelde |
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