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Gleichwohl weist die Bibel den einzelnen Menschen dem anderen, dem Nächsten zu. Die Geschichte vom barmherzigen Samariter, der Befehl, der Stadt Bestes zu suchen, das Christuswort, dem Kaiser zu geben, was des Kaisers ist, sieht in dem Menschen ein Wesen, das durch seine geistliche Beheimatung in der Bindung an Gott gerufen ist, sich den anderen zuzuwenden, gleichsam als Dank für die Erlösungstat Gottes. Und nicht zuletzt im Handeln Gottes mit dem Volk Israel leuchtet auf, daß die Gemeinschaft des Volkes zur göttlichen Schöpfungsordnung gehört.
Vor diesem Bilde vom persönlichkeitlichen Gemeinschaftswesen gewinnt die individuum verachtende Behauptung "Du bist nichts, dein Volk ist alles" ebenso den Charakter einer Forderung nach einer Widerordnung wie die Parole von der bindungslosen Ichbezogenheit, die in der schrankenlosen Selbstverwirklichung den Sinn menschlicher Existenz begreift.
Durch den Glauben an das freie, bedingungslose Ja Gottes zum einzelnen Menschen und dessen Zugewiesensein auf den Nächsten, der gleichfalls die persönliche Zuwendung Gottes erfährt, ist die abendländische Kultur gewachsen.
Sie ist immer wieder von Entartungen heimgesucht worden, an denen auch Christen mitgewirkt haben. Hexenverbrennungen und Bombenterror, Auschwitz und Vertreibungsverbrechen, aber auch hemmungsloses wirtschaftliches Profitstreben haben diese Kultur verdunkelt und manche Schatten sind noch immer nicht gewichen. Dennoch haben diese Entartungen nicht den Urgrund der abendländischen Kultur zerstören können.
Diese christlich-abendländische Kultur Europas hat viel mehr hervorgebracht als nur Kunstwerke unvergänglichen Wertes: Die Menschenrechte, die auf die ganze Welt ausstrahlen, haben hier ihr Geburtsland. Von Lissabon bis Narwa sind die Völker Europas, so verschieden ihre Gestalt, ihre Sprache, ihre Bräuche auch sein mögen, vom christlichen Menschenbild geprägt worden. Die Europäische Union, die längst nicht nur eine Zoll- und Wirtschaftsgemeinschaft sein will, sondern eine Wertegemeinschaft, gründet auf diesem europäischen Kulturerbe.
Manche nicht alle politischen Führer jener europäischen Staaten, die heute an die Türen der Union klopfen, denken nicht nur an wirtschaftliche Vorteile, an Wohlstandserwerb und Absatzsicherung, sondern auch an dieses gemeinsame Erbe, das sich tief im Grundsätzlichen auch in den ganz unterschiedlich ausgeformten Rechtssystemen der Unionsstaaten widerspiegelt.
Das Ausmaß der Hilfen, die gerade aus Deutschland in diesen Staaten bei der Überwindung des menschenverachtenden sowjetischen Rechtssystems geleistet werden, ist nur mit der Schaffung von Rechtsfrieden im Osten durch Übernahme des Lübecker oder Magdeburger Rechts im Mittelalter vergleichbar. Die Öffnung der Union für diese Staaten sollte daher nicht nur nach wirtschaftlichen oder außenpolitischen Erwägungen beurteilt werden. Hier geht es auch um die Wiederbelebung und Festigung eines gemeinsamen kulturellen Erbes.
Freilich sind sich viele Politiker im Westen wie im Osten nicht der politisch-moralischen Tragweite der Türöffnung bewußt. Dies trifft auch für manche Politiker zu, die sich zum christlich-abendländischen Erbe bekennen. Die Wiederbelebung und Festigung dieses gemeinsamen Erbes als Grundlage einer gerechten Friedensordnung in Europa kann kaum gelingen, wenn die im christlichen Menschenbild verankerten Menschenrechte nicht für alle Bürger der Unionsstaaten gleichermaßen gelten sollen.
Wer auf diesem Felde aus welchen Gründen auch immer einer Selektion das Wort redet oder sie gar politisch anstrebt, kann in der Folgewirkung das gemeinsame Fundament gefährden wie ein neuzeitlich zusammengesetzter Mörtel bei der Restaurierung einer mittelalterlichen Kirche: Was binden soll, kann Sprengkraft werden.
Auch daran sollte auch ein evangelischer Christ wie Polens Premier Buzek denken noch mehr gilt dieser Rat den allzuvielen Persönlichkeiten des politischen und öffentlichen Lebens in der Tschechei, für welche die Benesch-Dekrete noch immer sakrosankt sind.
Diese konkret gegen deutsche Vertriebene gerichtete menschenrechtsverletzende Haltung in der politischen Führungsschicht von zweien unserer östlichen Nachbarvölker sät Mißtrauen und Unfrieden zwischen Völkern, die zusammenkommen wollen und die zur gleichen Kulturgemeinschaft gehören. Und sie kann künftig auch zu Untaten anderer Völker an anderen Völkern verleiten.
Für die Europäische Union als Wertegemeinschaft von noch verhängnisvollerer Belastung aber wäre die Einbeziehung eines großen Staates mit einer dynamischen Bevölkerungsentwicklung, der sich an einem Menschenbilde orientiert, das dem christlichen entgegensteht. Auch wenn die Türkei in der Tradition Kemal Atatürks sich öffentlich zum Westen bekennt und nach Europa strebt, so beweist doch die Lebenswirklichkeit ihrer Menschen, daß sie einer anderen Welt angehört, daß sich ihre Menschen eben nicht in die christlich-abendländische Kulturgemeinschaft einfügen oder daß sie dort, wo die Christen eine verschwindende Minderheit in ihrem Lande bilden, nicht bereit sind, sie zu tolerieren. Manch ein europäisches Mädchen, das in die Türkei geheiratet hat, mußte dieses andere Menschenbild leidvoll erfahren.
Das ist kein Wort gegen den Bündnis- und Handelspartner Türkei. Das ist kein Wort gegen Wissenschafts- und Kulturaustausch mit der Türkei. Das ist erst recht kein Wort gegen die vielen einzelnen Türken in unserem Lande, die in verschiedenen Lebensbereichen unserer Gesellschaft loyal mitarbeiten und damit nicht nur sich selbst, sondern auch ihrer Wahlheimat dienen. Dies ist aber ein klares Wort gegen die Einladung an eine Wertegemeinschaft, die über die wirtschaftliche Brücke kommend schließlich die auf dem christlich-abendländischen Fundament der Menschenrechte aufgebaute Europäische Union in ihrem Herzcharakter sprengen kann.
Christus ist für alle Menschen geboren, gestorben und wiederauferstanden auch für jene, die sich ihm aus anderen Wert- und Glaubensordnungen zuwenden. Daran kann es keinen Zweifel geben. Die Weihnachtsbotschaft der Erlösung ist an alle gerichtet, sie lautet aber nicht, den Weg freizumachen für eine Wertordnung, in der das Nein zur christlichen beschlossen ist, aus der die Menschenrechte erwachsen sind. Darüber sollten auch jene christlichen Politiker nachdenken, für die letztendlich nur die ungelöste Kurdenfrage das Nein zur Aufnahme der Türkei in die Europäische Union rechtfertigt. Sicher, die Kurdenfrage ist ein belastendes Problem. Aber sie ist nur ein Teilproblem. Dahinter steht eine andere Welt.
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