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Die haben die Grenze dicht gemacht

 
     
 
Los, steh auf! Die haben die Grenze dicht gemacht", mit diesen Worten weckte ich am Sonntag, dem 13. August, meinen Bruder etwas nach 7 Uhr. Ich hatte bereits die ersten Nachrichten im RIAS gehört. Günter, noch nicht ganz wach, nahm das erst nicht so ernst, weil er die Absperrung für eine vorübergehende Maßnahme hielt. Dennoch schwangen wir uns sofort auf die Fahrräder und machten uns auf eine Erkundigungstour. Die gesamten 45 Kilometer Absperrung sind wir selbstverständlich nicht entlanggefahren, aber eine große Strecke war es doch. Viele erschrockene, verunsicherte, aufgebrachte Menschen, so wie wir, wurden von den Bewaffneten mit eindeutiger Entschlossenheit
zurückgedrängt.

Auch auf der Westseite hatten sich schon morgens viele Schaulustige eingefunden. Die Atmosphäre, die auf der Stadt lastete, kann ich nicht beschreiben. Ich hatte das Gefühl: Das ist nicht zu begreifen. Das kann kein Mensch in seinen Kopf bekommen. Man kann uns doch nicht allesamt einsperren! Von 33 U-Bahnhöfen Ost-Berlins waren 13 komplett geschlossen worden, von den 81 Grenzübergängen hatte man sofort 69 geschlossen. Am Monatsende waren nur noch sieben Übergänge geöffnet. (Ab dem 23. August durften die West-Berliner nicht mehr nach Ost-Berlin. Bis zum ersten Passierscheinabkommen, das vom 15. Dezember 1963 bis zum 5. Januar 1964 galt.) Auch als wir endlich wieder zu Hause waren, war da immer noch dieses dumpfe Nicht-Verstehen.

Wir waren von der Bornholmer Straße über Gleimstraße, Kopenhagener Straße zum Brandenburger Tor geradelt. Überall waren sie, die Kampftruppen mit ihren Maschinenpistolen, die nach Osten, also auf uns gerichtet waren. Befehligt wurden sie von Offizieren der Grenzpolizei. Hinter dieser sicheren Absperrung herrschte hektische Tätigkeit: Grenzpfähle, Stacheldrahtrollen wurden abgeladen und auch schon erste Hohlblocksteine.

Wir konnten den Plan sofort erkennen. Wir fuhren weiter, Luisenstraße, Chausseestraße quer hinüber zur Sonnenallee und Heinrich-Heine-Straße. Wir kannten die Grenze und die Grenzübergänge gut wegen unserer häufigen Kinobesuche in West-Berlin. Überall die von Waffen geschützte Betriebsamkeit!

Zwar war uns der Plan deutlich, das Ausmaß der Befestigungsanlagen und der weiteren Maßnahmen konnten wir nicht ahnen. Welcher normale Mensch hätte sich ausrechnen können, daß hier ein ausgeklügeltes System im Entstehen war und daß über viele Jahre geradezu mit Liebe an seiner technischen Vervollkommnung gebaut werden würde. Seine schrecklichste Gestalt sollte das System Mauer abschließend in den 80er Jahren erhalten:

Betonplattenwand mit aufmontiertem Rohr von ewa vier Meter Höhe; Kfz-Graben beziehungsweise Panzersperren von drei bis fünf Metern Breite: Kontrollstreifen aus Sand von sechs bis 15 Meter Breite zur Spurenfeststellung; Beleuchtungsanlagen; Grenzpostenlinien, die von den Grenzposten nicht überschritten werden durften; Kolonnenweg für motorisierten Streifendienst von weiteren vier bis fünf Meter Breite; Kontakt-, Signalzaun; Hinterlandzaun. Dazu gehörten zum Schluß an dieser 55 Kilometer langen "modernen Grenze" um West-Berlin herum 302 Beobachtungstürme, 20 Bunker und 259 Hundelaufanlagen.

Weitergehende Maßnahmen waren die Umwandlung der Grenzpolizei in ein Kommando Grenztruppen, also eine militärische Einheit, und die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht im Januar 1962 sowie ein Ausbau der militärischen Kräfte (NVA und Polizei) auf insgesamt 140000 Mann. Dazu die 450000 Mitglieder der Kampfgruppen der Arbeiterklasse. Vielleicht der klarste Beweis für die terrormäßige Propaganda, der Beleg dafür, mit welcher Unmenschlichkeit man gegen die eigene Bevölkerung vorging, sind folgende Zahlen: Vom 13. August bis 4. September wurden etwa 6000 Menschen festgenommen. 3100 wurden letzten Endes inhaftiert.

Die Reaktion des Westens? Willy Brandt, der Regierende Bürgermeister von West-Berlin, hatte auf einer Sondersitzung des Abgeordnetenhauses die "Grenzsicherung" als "empörendes Unrecht" gebrandmarkt. Die Absperrung bedeute, "daß mitten durch Berlin nicht nur eine Art Staatsgrenze, sondern daß die Sperrwand eines Konzentrationslagers gezogen wird". Er sprach am 16. August vor ewa 300000 aufgebrachten Berlinern, logisch West-Berlinern. Er richtete auch ein Schreiben an Kennedy mit der Bitte um politische Aktion. Ihm wurde in der Antwort aber nur versichert, daß die Welt West-Berlin jetzt erst recht als Hort der Freiheit schätzen würde. Das brachten auch die anderen Alliierten in ihren Noten zum Ausdruck. Für deutlichere Zeichen war wohl kein Spielraum. Günter Grass engagierte sich mit öffentlichen Briefen an seine Schriftstellerkollegen in der DDR und besonders an die Präsidentin des Deutschen Schriftstellerverbandes, Anna Seghers.

Damit war zwar für den Moment eine kriegerische Auseinandersetzung vermieden. Ein Jahr später würde der Kalte Krieg aber bereits wieder eskalieren - in der Kuba-Krise.

Aus: "Tod durch fremde Hand - Das erste Maueropfer in Berlin und die Geschichte einer Familie", Verlag d. Nation, Husum 2006, Paperback, rund 192 Seiten, zahlreiche Abbildungen, 9,95 Euro.
 
     
     
 
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