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Im nächsten Jahr wird Polen Mitglied in der EU. Aus Sicht der meisten Deutschen sollten sich die Polen darüber freuen, doch dem ist nicht immer so.
Ulrike Keding hat sich in Polen und auch in seinen östlichen Nachbarländern Weißrußland und der Ukraine umgeschaut, Menschen über ihre Meinung befragt und Eindrücke gesammelt, die sie in dem Buch "Die große Herausforderung - Impressionen aus Polen, Weißrußland und der Ukraine" zusammengefaßt hat. Sie beschreibt lebendig die momentane Lage in Polen und erklärt, warum ein EU-Beitritt dem Land nicht nur Segen bringt. Wenn Polen in die EU kommt, werden die Grenzen nach Weißrußland und der Ukraine dicht gemacht. Viele Menschen befürchten hier einen neuen Eisernen Vorhang. Sie verlieren ihre Lebensbasis, denn der Grenzhandel ist in den Ländern mit extrem hoher Arbeitslosigkeit für unzählige Menschen die einzige Chance, etwas zu verdienen. Auch kommen dann die vielen dringend benötigten, billigen Arbeitskräfte aus Weißrußland und der Ukraine nicht mehr nach Polen, um dort in der Landwirtschaft und in den Haushalten zu arbeiten.
"Die große Herausforderung" zeichnet ein Bild des heutigen Polen, erinnert aber auch daran, was sich in den letzten Jahren seit der Wende verändert hat. Viele der Veränderungen sind keineswegs positiv. Polen macht einen Wertewandel durch. Zwar ist die katholische Kirche noch sehr stark, aber der Zusammenhalt der Menschen untereinander ist verlorengegangen. Jeder ist seit dem Einzug westlicher Vorstellungen zum Einzelkämpfer geworden. Immer mehr regiert das Geld in Polen, und es gibt viele Opfer dieses Wandels. Viele Menschen sind arbeitslos. Fabriken, die einst für den Osten produziert haben, waren auf dem Weltmarkt nicht wettbewerbsfähig. Einstige Industriezentren gleichen Geisterstädten.
Die Völkerkundlerin Keding interviewte viele unterschiedliche Personen. Der Droschkenkutscher Marek, der zwanzigjährige arbeitslose Buchhändler Joseph, die Straßenverkäuferin Swetlana, der Jude Stanislaw, der Bauer Józef, die Jugendlichen Konrad, Mariusz und Tomek, der Journalist Marek Lawrynowicz und der ehemalige Staatspräsident Lech Walesa; sie alle vermitteln ein Bild von ihrem Polen.
Die Autorin bereiste unter anderem Warschau, Krakau, Lemberg und Danzig, aber auch weniger bekannte Orte wie Radom und Suloszowa. Stets gelingt es ihr, die jeweilige Stimmung in der Stadt einzufangen und dem deutschen Leser ein Gefühl für das Leben in Polen zu geben. Über sechzig Schwarzweißfotos unterstützen die greifbaren Beschreibungen.
"Die große Herausforderung" ist eine wirklich gelungene Darstellung über das heutige Leben in Polen, wo es zwar ungezählte Probleme gibt, aber die Menschen voller Hoffnung sind. "Menschen sind nur Menschen! Wir waren keine Helden. Wir haben von einer idealen Welt geträumt, aber wir konnten unseren Traum nicht verwirklichen. Und doch denke ich, Polen ist ein freieres Land geworden", kommentiert der Journalist Marek Lawrynowicz seine Beteiligung an dem gesellschaftlichen und politischen Umbruch in den 80er Jahren. Polens Zukunft in der EU sieht er als neue Chance. "Die Mitgliedschaft Polens in der Europäischen Union wird ein langer, mühsamer Prozeß sein, aber in eine gute Richtung. Ich glaube nicht an Wunder. In unserer Welt gibt es keine Wunder. Immer nur harte Arbeit, gute Gedanken, viel Zeit und Geduld."
Bei der Lektüre des Buches lernt der Leser ein individuelles Polen mit unbestreitbar vielen Problemen, aber auch mit offenen Menschen, einmaliger Kultur, faszinierenden Städten wie Lemberg, Danzig und Krakau kennen. Wenn Polen nur ein bißchen so ist, wie die Autorin es darstellt, dann wird das Land auch einiges in die Europäische Union mit einbringen und nicht nur entgegennehmen, wie es viele Kritiker der Osterweiterung befürchten.
Ulrike Keding: "Die große Herausforderung - Impressionen aus Polen, Weißrußland und der Ukraine", edition q, Berlin 2002, gebunden, 195 Seiten, 17,40 Euro. |
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