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Ein Disneyland in Doorn?

 
     
 
Nur wenige Personen der Zeitgeschichte werden so verzerrt dargestellt wie Wilhelm II. In der Literatur und der Öffentlichkeit gilt er heute gemeinhin als eitler Pfau und selbstverliebter Uniformfetischist, als realitätsferner Monarch mit einer kindlichen Freude an seiner Kriegsflotte und unbeholfener, führungsschwacher Staatsmann. Vor allem aber gilt er vielen als der Mann, der die Alleinschuld am Ausbruch des Ersten Weltkrieg
es trägt. Wer sich jedoch eingehender und unvoreingenommen mit dem letzten deutschen Kaiser beschäftigt, wird feststellen, daß ihm diese Klischees nicht gerecht werden. Denn dabei wird verkannt, daß vieles, was uns heute unpassend, übertrieben oder gar grotesk vorkommt, in der damaligen Epoche ganz selbstverständlich war und auch von den Herrschern der anderen europäischen Staaten praktiziert wurde - nur haben die eben nicht den Krieg und ihren Thron verloren.

Zweifellos ist Wilhelm II. - besonders in den frühen Jahren seiner Regierungszeit - naßforsch in manches Fettnäpfchen getreten und hat ausländische Diplomaten, Politiker und Monarchen vor den Kopf gestoßen. Doch dem Geschichtsforscher zeigt sich Wilhelm II. auch als ein durchaus nachdenklicher und abwägender Monarch und Kriegsherr, der die Gefahren, die der Krieg, seine globale Ausdehnung und seine Totalisierung für das deutsche Kaiserreich mit sich brachten, nicht verkannte. Sein Fehler war es, daß er sich immer wieder von den Siegesprognosen der Militärs blenden und schließlich von der Obersten Heeresleitung unter Hin- denburg und Ludendorff zur Marionette degradieren ließ. Für diesen Fehler hat er mit dem Verlust von Amt und Würden und dem Untergang seines Reiches bezahlen müssen.

Als Wilhelm II. sich am 10. November 1918 in die neutralen Niederlande ins Exil begab, war er zunächst mittellos. Die folgenden 18 Monate verbrachte er als Gast einer niederländischen Adelsfamilie. Erst im Sommer 1919 wurde in Deutschland ein Teil seines Vermögens freigegeben, so daß er für 400 000 Gulden das Kasteel Huis Doorn kaufen konnte, das er im Mai 1920 gemeinsam mit Kaiserin Auguste Viktoria bezog. In 59 Eisenbahnwaggons wurden ihm Möbel, Kleidung und persönliche Gegenstände aus den Privatgemächern der Schlösser in Berlin und Potsdam nachgesandt. Damit war die Aufrechterhaltung eines Mindestmaßes an höfischem Leben gewährleistet. In Doorn hielt der Kaiser ohne Thron bis zu seinem Tod 1941 unter strenger Bewachung durch die niederländische Polizei Hof, empfing Verwandte, Freunde, Getreue aus alten Tagen und kaisertreue Anhänger. Das Anwesen durfte er nur nach Voranmeldung und in die nähere Umgebung verlassen. Wilhelm bewies feines diplomatisches Gespür, indem er nur selten Gebrauch davon machte, um seinem Gastland eventuelle Unannehmlichkeiten zu ersparen. Seine Welt reduzierte sich fortan auf Haus Doorn. In den 29 Räumen seiner neuen Bleibe mußte sich Wilhelm allerdings vergleichsweise bescheiden einrichten. Nur das, was ihm wirklich am Herzen lag, konnte er hier unterbringen. Deshalb spiegeln die Räume in Haus Doorn den Menschen Wilhelm besser wider, als es ein Museum je tun könnte.

Heute betritt man in Doorn einen Mikrokosmos, in dem die Zeit stehengeblieben zu sein scheint. Glücklicherweise ist die niederländische Regierung 1945 nach der Beschlagnahme des Anwesens nicht der Versuchung erlegen, sich von Rachegedanken leiten und das Haus räumen zu lassen. So präsentiert sich Haus Doorn auch heute noch nahezu unberührt. Das ganze Gebäude macht einen bewohnten Eindruck. Der Tisch im Speisezimmer ist reich eingedeckt, im Schlafzimmer liegt die Bettlektüre auf dem Nachttisch, und im Rauchzimmer spürt man unwillkürlich dem Duft feiner Zigarren nach. Fast möchte man meinen, der Hausherr sei nur eben vor die Tür gegangen. Genau dies macht das Besondere von Haus Doorn aus. Es ist eben kein Museum, sondern ein Geschichtszeugnis, der original erhaltene letzte Wohnsitz des Kaisers, der dem Besucher in seiner Authentizität Einblicke in dessen Persönlichkeit und ihre letzten 20 Lebensjahre gewährt. Zugleich bieten die Räume ein Bild fürstlicher Wohnkultur, die den Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert dokumentiert.

Damit Doorn nicht zur Pilgerstätte für deutsche Monarchisten wird, bleibt das Mausoleum, in dem Wilhelm vor 60 Jahren seine letzte Ruhestätte gefunden hat, verschlossen. So mancher Besucher wird das kleine und unscheinbare Gebäude am Rande des Schloßparks sehen und gar nicht registrieren, daß darin die Gebeine des letzten deutschen Kaisers ruhen.

Kritiker bemängeln, Wilhelm habe sich in Doorn zu Lebzeiten ein Hohenzollernmuseum geschaffen, das nun unkommentiert der Öffentlichkeit präsentiert werde. Doch dieser Vorwurf geht fehl. Vielmehr wird deutlich, daß Wilhelm sich in der großen Tradition seiner Vorfahren sah, auf deren Leistung er mit Recht stolz war. Dies wird durch eine Vielzahl von Erbstücken, Gemälden und Memorabilien seiner Vorväter dokumentiert. Insbesondere seine Verehrung für Friedrich den Großen wird in vielerlei Hinsicht offenkundig.

Ebenfalls neben der Sache liegt der Vorwurf, hier würde man die Schattenseiten der Herrschaft Wilhelms II. vergeblich suchen und dem Monarchen, der es zugelassen habe, daß Millionen junger Männer in einen sinnlosen Tod geschickt worden seien, nicht begegnen. Wer diesen Vorwurf erhebt, verkennt, daß Haus Doorn kein Dokumentationszentrum über die Regierungszeit Wilhelms ist. Zweifellos wäre ein solches eine Bereicherung für Haus Doorn - vorausgesetzt, daß das Streben nach Objektivität und historischer Wahrheit und nicht die Political Correctness bei der inhaltlichen Konzeption die Feder führt und daß die wilhelminische Epoche nicht auf die Kriegsschuldfrage reduziert wird.

Bisher gibt es in Doorn in dieser Hinsicht nichts auszusetzen. Im Eingangsbereich des Hauses läuft ein Film in deutscher Sprache, der mit beeindruckendem Bildmaterial aufwartet, das kompetent und sachlich kommentiert wird. Man spürt das Bemühen, der Person des Kaisers gerecht zu werden und im Sinne des großen Historikers Ranke zu sagen, „wie es wirklich war“. Wohltuend sachlich wird daher dem Besucher während der Führung durch das Gebäude der Mensch und „Ruheständler“ Wilhelm II. nahegebracht. Der Besucher erhält viele Informationen über das Anwesen, erfährt Wissenswertes über Herkunft und Geschichte der Einrichtungsgegenstände und bekommt einen Einblick in den Tagesablauf des Kaisers, der nicht nur aus Holzhacken bestand, wie gemeinhin angenommen wird.

Es wird auch mit anderen gängigen Vorurteilen aufgeräumt. So erfährt der Besucher beispielsweise, daß die mehr als 200 Uniformen im kaiserlichen Kleiderschrank nicht Ausdruck eines krankhaften Uniformfetischismus waren, sondern daß es für einen Monarchen seiner Epoche selbstverständlich war, mehrmals am Tag, dem jeweiligen Anlaß oder Gesprächspartner entsprechend, eine andere Uniform anzulegen. Während in unserer Gesellschaft glücklicherweise alle Behinderten vor Diskriminierung geschützt sind, wird Wilhelm II. gern genußvoll wegen seines verwachsenen Armes als „Krüppel“ verhöhnt. Über die Ursache seiner Behinderung wird in Doorn ebenso informiert wie darüber, wie Wilhelm dieses Schicksal im Alltag gemeistert hat. Auch die in neuerer Zeit immer wieder auftauchende These, Wilhelm habe zeitweise die Nähe zu den Nationalisten gesucht, weil er sich dadurch eine Rückkehr auf den Thron erhofft habe, wird zurechtgerückt. Es fallen durchaus kritische Worte, aber keine, die Wilhelm verhöhnen oder herabwürdigen. Hierzulande würde eine solche Führung sicherlich anders ablaufen.

Der Zauber - gemeint ist der Zauber der internationalen Hofkultur im Originalzustand - währt fort, so heißt es im Hausprospekt von Haus Doorn. Doch damit könnte es im 60. Todesjahr Wilhelms vorbei sein, ginge es nach den Vorstellungen eines amerikanischen Investors. Denn auch das niederländische Staatssäckel ist leer, und der Unterhalt des Anwesens verschlingt viel Geld. Zwar üben der Kaiser und sein letzter Wohnsitz eine große Faszination auf Touristen aus aller Herren Länder aus, doch reichen die Besucherzahlen nicht aus, das Haus rentabel zu machen. Um den Bestand der Anlage in ihrer bisherigen Form zu sichern, wurde vor einigen Jahren eine Stiftung der Freunde von Haus Doorn ins Leben gerufen. Doch auch deren Mittel sind begrenzt. Deshalb hat es in den vergangenen Jahren immer wieder Pläne gegeben, das Haus zu privatisieren oder ganz aufzugeben.

Nun hat ein amerikanischer Geschäftsmann ein lukratives Kaufangebot gemacht. Ihm schwebt die Schaffung einer Art Geschichtspark vor. In den USA gibt es bereits historische Stätten, an denen Geschichte solcherart auf seriöse und anschauliche Weise vermittelt wird. Doch ist dies stets ein Zuschußgeschäft. Gleichwohl wird dies von der US-Regierung, der Betreiberin dieser Anlagen, zur Wahrung des historisch-kulturellen Erbes der Nation in Kauf genommen. Ein Geschäftsmann dagegen will Gewinn sehen. Es ist also wahrscheinlicher, daß der Investor in Doorn einen historischen Freizeitpark schaffen wird. Wer amerikanische Einrichtungen dieser Art kennt, wird bei dieser Vorstellung von einem kalten Schauer heimgesucht. Es steht zu befürchten, daß dann aus Haus Doorn ein wilhelminisches Disneyland wird, wo das Personal Pickelhauben aus Plastik trägt, „Kaiser-Willi-T-Shirts“ verkauft werden und Fahrgeschäfte im Schloßpark stehen. Die Mitarbeiter von Haus Doorn sind zuversichtlich, daß sich dieses Schick-sal noch abwenden läßt. Die Ent- scheidung über die Zukunft von Haus Doorn soll in einigen Wochen fallen. Es bleibt zu hoffen, daß sich der niederländische Staat doch noch dazu entschließt, das Anwesen weiter zu subventionieren. Andernfalls wird Haus Doorn seine Authentizität und damit seine Bedeutung als einmaliges Geschichtszeugnis einbüßen. Dann wird es zur Vergnügungsstätte für die oberflächlichen Mitglieder unserer Spiel- und Spaßgesellschaft degradiert werden.

Im politischen Abseits: Kaiser Wilhelm II. beim Holzhacken in seinem niederländischen Exil in Doorn, wo nunmehr eine kommerzielle Nutzung vorgesehen ist.

 
     
     
 
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