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Ein Rundgang über den Alten Friedhof in Darmstadt

 
     
 
Das Gedicht "Alter Friedhof" von Friedrich Georg Jünger beginnt mit dem Vers: "Urnen füllen sich und Krüge, mit der Jahre grünem Moos/ Es verliert im Busch der Wege sich; es verwilderte die Rose." Nein, auf dem "Alten Friedhof" in Darmstadt verwildert nichts. Dafür sorgen Friedhofsverwaltung und Städtisches Gartenamt, denn dieser Friedhof stellt ein Kleinod der Grabmal- und Gartenbaukunst dar.

1828 wurde die Totenheimstätte zwischen der Nieder-Ramstädter Straße und dem Herdweg als regelmäßiges Rechteck angelegt. Insgesamt birgt der "Alte Friedhof" 10.500 Grabstätten und 2.000 Urnenbehältnisse. Die ältesten Gräber liegen im nördlichen Teil des Totengartens entlang der Bruchsteinmauer mit ihrer Sandsteinabdeckung. Vornehmlich zwei Stilrichtungen, Klassizismus und Jugendstil gebührt die Ehre, Darmstadt weltberühmt gemacht zu haben, nämlich mit der 1899 durch Großherzog Ernst Ludwig von Hessen und bei Rhein erfolgten Gründung und dem Bau der "Künstlerkolonie
Mathildenhöhe", deren Hauptgestalter, Joseph Maria Olbrich, auf dem "Alten Friedhof" seine finale Bleibe fand.

Unverständlicherweise fürchten sich nicht wenige Menschen vor einem Friedhofsrundgang; fühlen sie sich veranlaßt, an einem Begräbnis teilzunehmen, entfliehen sie der Zeremonie, sobald die Schicklichkeit es zuläßt, verlassen eilig den Friedhof. Warum eigentlich? Friedhöfe bilden die irdischen Kontaktstellen zwischen uns und den Verstorbenen. Eine niedergelegte Blume, ein gemurmeltes Wort oder einfach nur Schweigen - und wir sind geistig mit den Toten verbunden. Es ist lediglich eine Frage der Zeit, wann wir uns immerwährend zu ihnen gesellen. Daß dies geschieht, ist die einzige Gewißheit, die das Diesseits den Lebenden garantiert.

Über einen wunderbaren Mosaikpflasterweg, dessen dreifarbige Ornamentik man kaum zu betreten wagt, gelangt man in die Innenbereiche des stillen Gartens. Skulpturen, Büsten, Mausoleen tauchen auf aus kunstvoll angelegtem Pflanzendschungel, erheben sich aus Blumenrondellen, schimmern zwischen dunklen Bäumen. Seit Urgedenken gültige Symbole, die auf das Jenseits verweisen, schmücken zahlreiche Grabmäler: Das christliche Kreuz in verschiedenen Formungen, mit oder ohne den Körper des Gekreuzigten; Engel in vielerlei Gestaltung; Genien, die Schutzbegleiter des Menschen, halten die nun gesenkte Lebensfackel; Marmorrosen verdeutlichen fortdauernde Liebe; Mohnblüten, Mohnkapseln versinnbildlichen den Schlaf und die langen Träume; der Schmetterling, aus der Antike übernommen, verkörpert die unsterbliche, dem Himmel zustrebende Seele; die sich in den Schwanz beißende Schlange steht - als geschlossener Kreis - für die Ewigkeit.

Es ist November. Lassen wir uns Zeit beim Streifzug durch den "Alten Friedhof". Besonders ausdrucksstarke Grabdenkmäler erheischen Verweilen. Auf einem Sockel bewachen zwei klassizistische Engel eine hohe Amphore. Das Grab beherbergt den Apotheker Heinrich Emanuel Merck (1794-1855), dessen von ihm gegründetes Pharmaziewerk der Stadt bis heute erhalten blieb. Die Ruhestätte des Landgrafen Christian von Hessen weist eine ins Auge springende Ausschmückung auf: Die Eckpfosten des aus gelbem und rotem Sandstein erbauten Grabmals tragen kompakte, stilisierte Tannenzapfen, eigentümliche Wirkung geht von ihnen aus. Von unmittelbarer Verständlichkeit dagegen ist die von dem Bildhauer Johann Baptist Scholl geschaffene Skulptur "Architectura" auf dem Grab des über Darmstadt hinaus berühmten Hofbaumeisters Georg Moller (1784-1852).

Ein blütenüberwuchertes Rondell, eingekreist von mächtigen Bäumen, gebietet Einhalt. Inmitten des Blumenzaubers sind große, dem Klassizismus zuzuordnende Sandsteinurnen plaziert. Sie wurden, ihres künstlerischen Wertes wegen, von aufgegebenen Gräbern in dies Rondell versetzt. Zwingend entsteht der Eindruck einer Art "Heiligen Hains", seltsam anzuschauen. Schlicht streckt sich das Grabmal der Frauenrechtlerin und Publizistin Louise Büchner in die Höhe. Sie war die Schwester des Schriftstellers Georg Büchner, der in Zürich bestattet liegt. Der graue, geschliffene Granitstein trägt ein leuchtend weißes Marmormedaillon mit dem Porträtrelief der Verstorbenen. Über die beiden großräumig angelegten Grabstätten der Familie Heidenreich/Siebold blickt eine Frauenskulptur. Marianne Theodore Charlotte Heidenreich von Siebold (1788-1859) war die zweite Frau, die in Gießen als Ärztin promovierte. Sie errang den Ruf, hervorragende Geburtshelferin zu sein. Anno 1819 half sie zwei Fürstenkindern, ins Leben zu treten. Es waren die spätere Queen Victoria von England und ihr zukünftiger Ehemann Prinz Albert von Sachsen-Coburg-Gotha. Man stelle sich vor, der Ärztin wäre bei der Geburtshilfe ein Fehler unterlaufen; ihre männlichen Kollegen hätten höhnisch aufgeschrieen: "Das kommt davon, wenn Frauen Medizin studieren."

Ein von dem Innsbrucker Steinmetzbetrieb Hohenauer 1819 gefertigtes Monumental-Familiengrabmal verbindet Prunk mit Kunst. Aus rotem Granitsockel erwächst der weiße, pompöse Marmorsarkophag. Eine der Märchenwelt entstammende Frauengestalt beugt sich leicht, um einen Kranz auf das mit Blumengirlanden, Engelshäuptern und einem Putto bestückte Ruhegehäuse niederzulegen. Fraglos atemberaubend, aber nicht ungewöhnlich; es war Zeitgeschmack, auf vielen großen Friedhöfen vorherrschend. Bezaubernd anmutig durch Schlichtheit ein reines Jugendstilgrabmal aus Muschelkalk von 1915: Im wehenden Gewand ein weibliches graziles Wesen, zu dessen Füßen ein Kind ruht ...

Friedhöfe bergen mit ihren Toten auch deren Schicksale. Rektor und Pfarrer Friedrich Weidig, ein Freund Georg Büchners, wurde 1835 "wegen Abfassung und Verbreitung revolutionärer Schriften" verhaftet. Zwei Jahre danach beging er im Gefängnis dem Vernehmen nach Selbstmord. Sein aus Eisen geschmiedetes Grabkreuz mußte auf behördliche Anweisung mit Blei zugegossen werden. Erst 1848 wurde es wieder freigelegt. Freunde gaben eine Gedenktafel in Auftrag ... Ernst Elias Niebergall (1815-1843) darf nicht unerwähnt bleiben. Der Gedenkstein mit schmaler Urne ruft den Mundartdichter, Verfasser des "Datterich", den Friedhofsgärtnern ins Gedächtnis.

Durchaus keiner verwilderten, aber einer "Letzten Rose" ist im "Alten Friedhof" zu gedenken. Friedrich von Flotow (1812-1883) komponierte die wehmütige Melodie mit dem noch wehmütigeren Text "Und mit dir, mit dir ins Grab" für seine 1847 in Wien uraufgeführte Oper "Martha oder der Markt zu Richmond". Das Lied eroberte Ohren und Herzen aller Romantiker. Die Grabanlage des Komponisten zählt zu den prächtigsten, viele behaupten, zu den schönsten des Friedhofs. Unübersehbar ist sie in jedem Fall. Auf steil emporstrebendem schwarzen Granitblock ist die Büste Flotows postiert. Vor dem Block harrt eine helle Marmorgestalt, eine verschleierte Frau. Mit vorgestreckter Hand schreitet sie ins Jenseits. Umrahmt wird die Grablege von einer Gittereinfriedung, auf deren Eckpfosten Vögel, Piepmätze mit aufgesperrten Schnäbeln die "Letzte Rose" zum Himmel schirpen. Wer will, kann es hören ... Der Ruhestätte des Chefarchitekten der Mathildenhöhe, Joseph Maria Olbrich, gilt der letzte Blick auf dem "Alten Friedhof". Für den Jugendstilmeister Darmstadts errichtete (mutmaßlich) das Mitglied der Künstlerkolonie Heinrich Jobst das Grabmal. "Mutmaßlich" deshalb, weil der Künstler den weißen Marmorreliefstein nicht signierte. Die florale Verzierung, typisches Merkmal des Jugendstils, zeigt das Symbol ewigen Schlafs: Mohnkapseln.

Jeder Friedhof dokumentiert den Abschied. Er verewigt aber auch die Liebe. Börries von Münchhausen: "Je länger du dort bist, um so mehr bist du hier./ Je länger du fort bist, um so näher bei mir. "

Alter Friedhof in Darmstadt: Kunstvolle Grabmäler erinnern an die Toten

Foto: Denkmalschutzamt/Heiss
 
     
     
 
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