|
Mit den islamistischen Gewaltakten von New York und Washington sollte den westlich-abendländischen Staaten klar geworden sein, daß das „Zeitalter der Kulturen“ und der von Samuel Huntington vorhergesagte „Kampf der Kulturen“ mit seinen neuartigen Gefahren und weltpolitischen Herausforderungen längst angebrochen ist.
Mit der wirtschaftlichen „Globalisierung “ geht eine machtpolitische und bewußtseinsmäßige Differenzierung einher, die sich auf anderer Ebene auch innerhalb unseres Kulturkreises beobachten läßt.
Während sich die ökonomischen, informations- und verkehrstechnischen Horizonte fast überall erweitern, finden die nach Orientierung suchenden Menschen gerade in Europa neuen Halt im Bezug auf die eigene Heimatregion. Damit tritt jener Bereich in den Vordergrund, den man noch einigermaßen überschauen kann, in dem es also unmittelbare Erfahrungen gibt. Diese sind von besonderem Wert in einer Zeit, in der man Tag für Tag mit vermittelten Medien-„Informationen“ geradezu zugeschüttet wird.
Das „Europa der Regionen“ ist viel mehr als ein Schlagwort. Man kann seine Bedeutung im traditionell föderalen Deutschland allerorten beobachten. Und auch in den östlichen Nachbarstaaten gibt es seit dem Umbruch von 1989/90 eine Renaissance kleinerer, geschichtlich gewachsener Räume.
Ein gutes Beispiel ist Schlesien, und zwar sowohl der zur Bundesrepublik gehörende Zipfel, als auch der zum polnischen Staat zählende Hauptteil sowie der tschechischn Machtbereich um Troppau, Jägerndorf und Hultschin. Die Republik Polen hat im Zuge ihrer Gebietsreform sogar landesweit dafür gesorgt, daß die heutigen 16 Wojewodschaften wieder den historischen Regionen entsprechen.
Auch der mährische Regionalismus ist zu beachten, ebenso das Eigenbewußtsein im rumänischen Siebenbürgen, die Autonomiewünsche in der mitteleuropäisch geprägten Wojwodina (Serbien) oder der Regionalismus im kroatischen Istrien, im ukrainischen Teil Galiziens und in der Karpatenukraine.
Nicht zuletzt entsteht unter der nach 1945 aus allen Teilen der früheren Sowjetunion ins nördliche Ostdeutschland gekommenen Mischbevölkerung ein stark von der deutsch-preußischen Geschichte beeinflußtes neues Regionalbewußtsein, ohne das die entwurzelte russische Exklave auf längere Zeit kaum zusammengehalten werden kann.
Auf akademischer Ebene ist der Regionalismus seit etwa zwei Jahrzehnten vor allem bei Geschichts- und Politikwissenschaftlern zum Modethema geworden. Hierbei spielt es auch eine Rolle, daß maßgebliche Bildungspolitiker und Professoren in blühenden Regionalismen eine Art Antithese zum „Europa der Vaterländer“ sehen wollen.
Dabei ist diese ideologische Absage an die fortdauernde Bindungskraft von Nationen und Staaten irreführend, handelt es sich doch - allen früheren und heutigen Konflikten zwischen Regionalismus und staatlichem Zentralismus zum Trotz - meist um zwei ergänzende Identifikations-, Sozial- und Verwaltungsebenen, die aufeinander aufbauen und einander brauchen, um sich entfalten zu können. Statt von Konkurrenz sollte man vielmehr von einer komplementären Beziehung sprechen.
Wie auch immer: Für Seminare wie jenes vom 11. bis 16. September zum Thema „Riga und der Ostseeraum in der Geschichte: Regionale Verbindungen und Multikulturalität“ (ausgerichtet von der Lettischen Universität Riga, der Universität Greifswald, dem Herder-Institut und der Baltischen Historischen Kommission) lassen sich heutzutage vergleichsweise leicht öffentliche Fördergelder freimachen. Desgleichen gilt für Veröffentlichungen wie die des geplanten „Handbuchs der neueren Geschichte Oberschlesiens“.
Mit diesem wollen das Marburger Herder-Institut, das Schlesische Institut in Oppeln sowie das Institut für Geschichte und Museologie der Schlesischen Universität in Troppau nach eigenem Bekunden die „bisher dominierende nationalgeschichtliche Betrachtungsweise zugunsten einer auch alltags- und mentalitätsgeschichtliche Aspekte berücksichtigenden regionalgeschichtlichen Darstellung überwinden“.
In Berlin haben die Humboldt-Universität und die Freie Universität im Mai 1998 ein „Zentrum für Vergleichende Geschichte Europas“ (ZVGE) ins Leben gerufen, das im Rahmen seines selbstgestellten Ziels, „Europa aktuell und historisch als Ganzes zu denken“, gerade regionale Prozesse und Identitäten in den Blick nimmt. Der tendenziell antinationale Ansatz des ZVGE, dessen üppige Finanzausstattung für die ersten fünf Jahre die VW-Stiftung übernommen hat, wird bereits in Tagungstiteln deutlich. So diskutierte man am 9./10. Februar dieses Jahres über „Die Grenzen der Nationen und Nationalstaaten: Regionalismen in europäischen Zwischenräumen von der Mitte des 19. bis zum Ende des 20. Jahrhunderts“, vom 5.-7. Oktober 2000 über „Identitäten jenseits der Nation? Transnationale Öffentlichkeit und interkultureller Transfer im 20. Jahrhundert“ oder am 31. März und 1. April desselben Jahres über „Mental Maps: Die Konstruktion von Räumen und Grenzen in Europa seit der Aufklärung“.
Regionalismus, innerstaatliche Autonomie, Interethnik, Multikulturalität und nicht zuletzt die vielbeschworene Zivilgesellschaft gelten als „gut“, während Zentralismus, Nationalbewußtsein, Staats- und Kulturgrenzen, „nationale Mythen“ und die Festellung ethno-kultureller Unterschiede abgelehnt werden. Vor diesem Hintergrund muß natürlich auch Samuel Huntingtons These vom „Kampf der Kulturen“ wie eine Provoka-tion wirken.
Regionalismus ist als identifikationsstiftendes Element zweifellos sehr wertvoll für das gemeinschaftliche Zusammenleben auf substaatlicher Ebene und sollte in weiten Teilen Europas gefördert und weiter ausgebaut werden. Wenn heutige Professoren allerdings meinen, die Regionalismusforschung könnte - wie es in einem Tagungsbericht des ZVGE heißt - „das natiozentrische europäische Geschichtsbild“ kippen, so hat dies weder viel mit Wissenschaft zu tun, noch wird der „Renaissance der Regionen“ ein Dienst erwiesen.
Daß gerade ost- und sudetendeutsche Vertriebene und die verschiedenen Aussiedlergruppen Interesse an der Ausweitung der regionalen Selbstverwaltung und des Heimatbewußtseins in ihren Herkunftsgebieten haben, liegt auf der Hand. Alle Erfahrungen zeigen, daß sich eigene Wünsche oder Hilfsvorhaben viel besser mit Entscheidungsträgern vor Ort verhandeln lassen als mit weniger sachkundigen und stärker ressentimentbehafteten Politikern in der Landeshauptstadt.
|
|