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Eine Absage an die Demokratie

 
     
 
Als Wladimir Putin für eine weitere Präsidentschaftsperiode gewählt wurde, hätte er sich für die Weiterführung seiner Amtsgeschäfte sicher einen ruhigeren Fortgang der Ereignisse gewünscht. Die Anschläge auf die Moskauer Metro und zwei Flugzeuge sowie zuletzt das Geiseldrama von Beslan haben die russische Demokratie tief erschüttert. Die tschetschenische Problematik ist zum Tagesthema geworden, das Thema "Innere Sicherheit", das schwindende Vertrauen der Bevölkerung
in die Fähigkeit der Regierung, für ihren Schutz zu sorgen, steht auf der Tagesordnung des politischen Alltags. Die russischen Metropolen Moskau und St. Petersburg besuchten seit August 30 Prozent weniger Touristen.

Nun rüstet der Kreml auf. In seiner Rede nach Beslan sprach Putin davon, daß Rußland sich im Krieg befindet. Als Feinde werden abstrakt Terroristen oder Tschetschenen genannt, indirekt sind nach Meinung russischer Politologen auch die USA und ihre westlichen Verbündeten gemeint, die die Reformen des Präsidenten nicht befürworteten, weil sie eigene Interessen im Kaukasus verfolgten und deshalb die tschetschenischen Terroristen unterstützten. Kritiker meinen, daß Putin zur Rhetorik Stalins zurückkehre, wenn er von der Front in jedem Haus und auf allen Straßen spreche. Nun werde deutlich, daß mit Putin Militärs und Bürokraten an die Macht gekommen seien, die sich dazu berufen fühlten, nach Perestrojka und dem Chaos der Jelzin-Ära die Ordnung wiederher-zustellen, wobei sie sich auf ihre eigenen, auf marxistischer Ideologie basierenden Ideale stützten. Für Liberale sei in der Duma kein Platz, und alle Andersdenkenden rangierten als innere Feinde.

Für eine solche Sicht spricht die Maßnahme des Präsidenten, in Zukunft die Gouverneure russischer Regionen selbst zu bestimmen. FSB und andere Sicherheitskräfte sollen umstrukturiert und vom Staatsoberhaupt stärker kontrolliert werden. Es soll der Staatsduma sogar ein Antrag auf eine Gesetzesänderung vorliegen, derzufolge die Bewegungsfreiheit der Bürger nach sowjetischer Praxis eingeschränkt würde.

Die Gesetze zum Tragen von Waffen sollen liberalisiert werden. Schon heute bewaffnen sich viele Russen, die das Vertrauen in ihre Obrigkeit verloren haben. Sie kaufen leicht zugängliche Jagdgewehre und Selbstverteidigungs- waffen. Diejenigen, die ohnehin mit Rechtsstaatlichkeit nichts anzufangen wußten, hatten sich schon auf dem Schwarzmarkt versorgt. Ein Moskauer Waffenhändler erzählte der Zeitung Argumente und Fakten, bei ihm gingen täglich zwei bis drei Jagdgewehre über die Ladentheke, für die eine Lizenz notwendig sei. Diese Lizenz ist in Rußland problemlos zu bekommen. Normalerweise dauert es nach Antragstellung einige Wochen, bis man eine Lizenz erhält, für 150-200 US-Dollar bekommt man sie sofort. Kopien von Kalaschnikows und Remingtons gehören zu den Rennern auf dem Schwarzmarkt.

Nach dem Geiseldrama wurden in Beslan Waffenkontrollen durchgeführt. Seit Sommer dieses Jahres konnte die Polizei in der Nordkaukasus-Republik bereits 35 Maschinengewehre, 600 Granaten, 480 Kilo Sprengstoff sowie anderes, aus Militärbeständen stammendes Kriegsmaterial sicherstellen.

Konflikte nationaler Gruppen spitzen sich derweil zu. In der russischen Hauptstadt kam es zu einem Vorfall in der Metro, bei dem vier Männer schwer verletzt wurden. Eine Gruppe von 20 bis 40 Skinheads drang in einen Waggon ein, ergriff die Männer mit kaukasischem und asiatischem Äußeren, begann mit dem Ausruf "Das ist für die Anschläge" sie zu mißhandeln. Als die Männer sich zur Wehr setzen wollten, wurden sie mit Messern attackiert und zum Teil lebensgefährlich verletzt. Einige Skinheads konnten festgenommen werden. Es waren zwei Schüler und ein Student.

Über ihre Motive wurde nichts geschrieben. Tschetschenen als Feinde Rußlands und per se als Verbrecher zu bezeichnen, pflegt auch die offizielle Seite. Interfax verbreitete die Meldung, für die Ermordung Paul Chlebnikows (Chefredakteur der russischen Ausgabe des Magazins Forbes) seien zwei Tschetschenen verantwortlich gewesen, die jetzt gefaßt werden konnten.

Zu den von Präsident Putin in Erwägung gezogenen Maßnahmen zur Stärkung der staatlichen Autorität gaben seine Vorgänger Gorbatschow und Jelzin der Moskauer News Interviews. Gorbatschow kritisierte zunächst die Sicherheitsdienste, weil sie weder den Terrorakt selbst noch seinen blutigen Ausgang verhindern konnten, und forderte personelle Konsequenzen. Die Verantwortlichen gehören seiner Meinung nach abgesetzt. Den Kampf gegen Korruption müsse die Regierung vorantreiben, sich aber auch um die sozialen Probleme im Nordkaukasus kümmern.

Putins neuerliches Machtgebaren lehnte Gorbatschow entschieden ab. "Das ist in Wahrheit eine Absage an die Demokratie." Mit Gewalt sei Terrorismus nicht zu bekämpfen. Er sieht die Terroranschläge der vergangenen Monaten als direkte Folge von Kriegshandlungen im Kaukasus und präferiert eine politische Lösung. Hierzu sei es hilfreich, Gespräche mit gemäßigten Kämpfern zu führen und sie von Extremisten zu trennen.

Er empfiehlt der Regierung, sich bei ihren Handlungen stärker an der Gesellschaft zu orientieren. Korruption sei ohne ein normales Parlament und ohne Pressefreiheit, das heißt ohne Kontrolle der Gesellschaft, nicht zu verhindern. Beim derzeitigen Regierungskurs geschehe das Gegenteil: Die Losung "Kampf dem Terrorismus" als Rechtfertigung nutzend, würden die demokratische Freiheit beschnitten, Meinungsfreiheit und freie Wahlen unterbunden. Heute gebe es ohnehin nur noch "Geldsack"-Parteien, die zu allem "Ja" und "Amen" sagten. Er appellierte an die Vernunft der Politiker, Wähler und des Präsidenten, sich für den Erhalt der mühsam erlangten Demokratie einzusetzen.

Im Tenor ähnlich äußerte sich Jelzin. Nach Beslan müsse er an die Vernunft der Verantwortlichen appellieren, sich an die Verfassung zu halten. Nach der Tragödie sei deutlich geworden, daß man sich das Maß an Siechtum, Verantwortungs- und Sorglosigkeit nicht mehr leisten könne. Die Regierung müsse schnell und hart handeln. Jedoch zielten die Maßnahmen, die bisher von der Führung getroffen wurden, nur darauf ab, die demokratischen Freiheiten in Ketten zu legen. Eine Rücknahme demokratischer Freiheiten und der Abbau demokratischer Rechte sei als Sieg der Terroristen zu werten. Nur ein demokratisches Land könne dem Terrorismus entgegentreten und auf die Unterstützung zivilisierter Länder hoffen. B. Gürtler

Chinareise: Putin zeigt sich trotz unterschiedlicher Interessen im Umfeld der Jukos-Öllieferungen gern beim Nachbarn in Peking.

 
     
     
 
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