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Die Sonnenstrahlen werfen schon lange Schatten von den Kiefern, Fichten und Buchen. Abendstimmung, wie wir sie von unserer Kindheit kennen. Nun wird es Zeit, nach Hause zu gehen. Von Deutsch Eylau grüßt uns schon rechter Hand der Geserich. Auf den ersten Blick wirkt das Wasser grau. Die Bäume am Ufer noch entlaubt, kahl. Die Sonnenstrahlen kitzeln zwar bereits den Frühling wach, doch hier im Osten will gut Ding Weile haben. Weiter geht es auf der Chaussee , die die polnischen Behörden zwischen Deutsch Eylau und Schwalgendorf erbauen ließen. Kilometer um Kilometer schlängelt sie sich durch den prächtigen Wald. Doch nicht nur die Natur beschert mancherlei Abwechslung, sondern auch der Weg, bei dem sich offensichtlich Reifenteststrecken mit tiefen Schlaglöchern und guterhaltene Abschnitte abwechseln. Mehrere angelegte Parkplätze an der Seite lassen ahnen, daß wir uns in einem von vielen Touristen besuchten Gebiet des südlichen Ostdeutschland befinden - im Schwalgendorfer/Christburger Forst mit seinen wunderbaren Waldseen, unter denen der Geserich unzweifelhaft der Goliath ist. Ein Ortsschild verkündet Schwalgendorf. Es ist in polnischer Sprache. Der Ort liegt in absoluter Ruhe, wie im Winterschlaf. Als wir in den Ort einfahren, kommt ein Polizeiauto. Prüfende Blicke, doch wir biegen in ein Gehöft. Das Auto fährt weiter. Wir sind angekommen und froh, am Ziel zu sein. Als wir aussteigen, locken uns die letzten Sonnenstrahlen. Rasch runter zum See, baden (April, April). Der rauhe Ostwind belehrt uns eines Besseren.
Am nächsten Morgen schwimmt in aller Früh ein roter Ball auf dem Geserich. Er wird weißgolden und steigt zum Himmel empor. Es verspricht, ein schöner Tag zu werden. Als wir etwas frühlingshaft bekleidet das Haus verlassen, läßt uns der rauhe Ostwind fast erstarren. Man sagt, bis zum Mai hat der Winter bis 10 Uhr das Sagen, danach probt der Sommer seine Kraft. Deshalb ist bei vielen Obstbäumen der Stamm weiß gekalkt, um das Aufbrechen der Borke durch die starken Temperaturunterschiede zu verhindern.
Wir beginnen mit dem Südzipfel des Geserich - mit dem zu Westpreußen gehörenden Deutsch Eylau, das 1945 durch russische Truppen zu 80 Prozent zerstört wurde. Das Rathaus von Deutsch Eylau wurde mit deutscher Finanzhilfe im alten Stil wiedererrichtet. Hoch ragt noch immer die alte Ordenskirche über See und Stadt. Da die Bäume noch nicht ihr Blätterkleid tragen, ist von fast überall die prägnante Silhouette zu erkennen. Neben der Kirche ist ein kleineres Gemeindehaus aus Klinker erbaut, ein Kleinod aus Backstein. Das einstige evangelische Pfarr- und Gemeindehaus ist mit den Heiligenbildchen der Katholiken behängt. Es ist Palmsonntag. Hunderte strömen zu den Kirchen, in der Hand vielfach eine künstliche Nachahmung eines Palmenzweiges. Bunt, wir würden kitschig dazu sagen.
Von Deutsch Eylau geht es nach Schönberg, einstige Wehranlage der deutschen Ordensritter, auch sie von den Russen bei der Besetzung Westpreußens zerstört. Gegenwärtig befindet sie sich im Besitz eines reichen Polen aus Warschau, der hier angeblich ein internationales Kulturzentrum errichten will. An den Feldern, auf denen vorwiegend Erdbeeren angebaut werden, vorbei geht es auf Sandwegen von Schönberg nach Schwalgendorf.
Ein Spaziergang durch den Ort, der heute nicht einmal mehr 300 ständige Einwohner zählt. Es steht noch eine Reihe der herrlichen Klinkerbauten, die einst dem Dorf sein romantisches Gepräge gaben. Viele Baulücken, die die Russen durch Beschuß und Brandschatzung verursachten, einige neue oder umgestaltete Häuser, zumeist Improvisation der schlechten Art.
An das romantische Fischerdorf von einst bleibt nur die Erinnerung. In den ersten Jahren der polnischen Verwaltung sollten sogar alle Klinkerbauten übertüncht werden, damit nichts mehr an das Deutschtum erinnere. Die Polen sägten dafür den Mast der Windturbine für die
Stromerzeugung auf dem Mühlenberg ab. So hatte Schwalgendorf von Ende 1945 bis etwa 1965 keinen Strom. Licht gab es in Gestalt der Petroleumlampen (Acht-Millimeter-Docht) im Alltag, zum Festtag schon mal die Zwölf-Millimeter-Lampe, die deutlich heller strahlte.
Ein Juwel hat überdauert - der Geserich, den die neuen Verwalter nun zu ihren Gunsten zu nutzen versuchen und reklameträchtig als Teil Masurens vermarkten.
In der Mitte des Dorfes zweigt Richtung Alt-Schwalge/Zollnick der Weg zum Friedhof ab. Ein paar Schritte nur, dann steht man davor. Unschwer ist der deutsche Teil zu erkennen. Im vorigen Herbst wurde das Gestrüpp weggehauen, die fingerdicken Reste der Stämmchen übersäen den größten Teil des Terrains. Dazwischen Grabeinrahmungen, Grabplatten, auf denen besser oder schlechter noch Namen und Daten zu entziffern sind. Einige Gräber aus jüngerer Zeit, gut erhalten, gepflegt. In der Mitte des Friedhofs eine Sammlung kunstvoll geschmiedeter Grabeinrahmungen, die erstaunlich wenig Rost angesetzt haben - Zeugnis deutscher Wertarbeit. Der hintere Teil, auf dem jetzt auch eine Kapelle steht, der katholische Friedhof. Bestens gepflegt, nach dem Geschmack der Polen und Ukrainer mit den buntesten Papierblumen geschmückt. Bis vor kurzem trennte die beiden Teile ein Zaun. Der Zahn der Zeit nagte auch an ihm. Und so ist etwas Normalität auch auf dem Friedhof eingekehrt.
Vom Friedhof geht es weiter in Richtung der Försterei Davideit in Alt-Schwalge. Halt am herrlichen Schwalger See. Unten der Abfluß des Uklei-Grabens, der zum Geserich führt, oben auf dem etwa zehn Meter hohen Plateau steht neben einer kleinen Bungalowsiedlung aus den 60er Jahren die Försterei Davideit. Was für ein herrlicher Ausblick von hier oben. Wer hier lebt, ist Teil der Natur. Vor dem Weg entlang des Forstgehöftes stehen hohe Fichten, die einst Förster Davideit als Schneeschutzhecke pflanzte. Früher hatte man von hier einen traumhaften Blick auf das etwas tiefer liegende Dorf. Doch das ist lange her. Von den einstigen Ackerflächen hat längst der Wald Besitz ergriffen.
Von Alt-Schwalge geht es weiter nach Zollnick. Von der Försterei Zollnick, die zum Finckensteiner Forst gehörte, sieht man nur noch ein paar Trümmer, einen Zaunpfahl aus Beton. Vielleicht 200 Meter weiter rechter Hand die einstige Schule von Zollnick, später Jugendherberge und Reichsarbeitsdienstlager für Mädchen. Heute hat eine polnische Jagdgesellschaft von ihr Besitz ergriffen. Etwa 50 Meter davon entfernt der Große Zollnicker See. Hinter der einstigen Schule noch die alte Wasserpumpe auf dem Hof. Die Rückseite des Hofes bildet der einstige Stall des Lehrers. Man kann es kaum glauben, daß sich hier in Zollnick in der Mitte des 19. Jahrhunderts ein Glaswerk befunden hat, dessen Produkte - vor allem für Apotheken - auf Pferdefuhrwerken bis nach Königsberg geliefert wurden.
Von Zollnick aus statten wir dem Tromnitzer See einen Besuch ab, der für seinen Vogelreichtum berühmt ist. Von Ferne schon hört man das Geschrei der Kormorane, die anscheinend auf zwei der vier Inseln ihre Horste auf hohen Bäumen bauen. Der Kot der Vögel hat die Bäume absterben lassen. Ein bizarres Bild. Neben Kormoranen leben hier auch Reiher, die am Ufer des Sees regungslos auf ihre Beute warten. Schwarzstörche nisten hier, und sogar der Seeadler. Aber der Vogelreichtum hat auch seine Nachteile. Im Tromnitzer See ist der Fischbesatz sehr zurückgegangen, und inzwischen holen Kormorane ihre Beute sogar vom Geserich. Als wir den See wieder verlassen, hören wir das Geklapper der Vogelschnäbel noch längere Zeit. Von hier geht es zum nicht weit entfernten Weißen oder Ges-nar-See. Davor noch die kleinen Erdhügel, die in regelmäßigen Abständen die Grenze zwischen dem Schwalgendorfer Staatsforst und dem Finckensteiner Privatforst sowie letztendlich die Grenze West- und Ostdeutschlands markieren. Der Weiße See besticht durch die Klarheit seines Wassers. In diesem See gibt es kaum Lebewesen, fehlender Sauerstoff soll die Ursache sein. Den Kindern wurde erzählt, daß hier der Wassermann lebe, der alle Fische aufgefressen habe und nun hungrig auf badende Kinder warten würde.
Wenn man an diesen so reizvoll gelegenen Waldsee herantritt, hat er etwas Mystisches an sich, was vielleicht mit der grünlich-blauen Farbe des Wassers zusammenhängt. In der Nähe des Ufers einige wenige Wasserpflanzen, die ihren Lebenskampf mit dem See führen und deren fahl-grüne Blätter auf dem Wasser schwimmen. Die Reinheit des Wassers ließ in früheren Zeiten umliegende Brauereien diesen wichtigsten Bestandteil des Bieres aus dem See holen.
Nicht weit von hier, im einstigen Jagen 113 des Schwalgendorfer Forstes, steht der "Weiße Mann" - eine geschnitzte Holzfigur. Früher war er ein wichtiger Orientierungspunkt und zugleich Wegweiser. Von Alt-Schwalge kommend geradeaus wies er in Richtung Heidemühle. Links mußte man abbiegen, um den Weg nach Januschau einzuschlagen. Der heutige "Schwarze Mann" ist eingezäunt, damit er nicht auch noch die Flucht ergreift und Ostdeutschland seinem nicht gerade rosigen Schicksal überläßt.
Folgen wir dem früheren Wegweiser. Weiter geht es nach Januschau zum einstigen Schloß des Kammerherrn von Oldenburg, von dem zumindest noch eine baulich gesicherte Ruine steht und die vor kurzem von einem Warschauer erworben wurde. Von Januschau geht es noch bis zur alten Schäferei in Brausen. Von einem Schäfer namens Willert wird erzählt, daß er nach einem Einkauf in Rosenberg mit seinem Fahrrad eine Pause einlegte. Da er etwas faul war und nicht absteigen wollte, hielt er so an, daß er neben einem großen Stein zum Halten kam, auf dem er sich mit dem Bein abstützte. Er holte die Brustflasche heraus, schraubte sie auf und wollte gerade trinken, als er das Gleichgewicht verlor und beim Sturz die Glasflasche auf dem Stein zerschellte. Man will gesehen haben, wie er sich neben den Stein legte und die kostbare Flüssigkeit ableckte.
Ein anderer Waldweg führt uns nach Groß Albrechtau. Doch zuvor machen wir einen Abstecher zu einem idyllischen Waldsee namens Moddersee, der diesen Namen aber völlig zu Unrecht trägt. Wie gern badeten die Einwohner von Albrechtau in dem klaren Wasser dieses Sees, in dem sich an diesem herrlichen Frühlingstag Hunderte von Kröten tummeln. Der Ort Groß Albrechtau ist wenig ansehnlich, nur die Kirche mit ihrem weißen Putz leuchtet aus der Kümmernis hervor. Dann ein kurzer Weg zum einstigen Schloß Finckenstein, das die Russen 1945 ebenfalls in Schutt und Asche gelegt haben und an dessen Überresten sich die Polen schadlos hielten. Am Eingangstor kündet einzig eine Tafel, daß hier vom 1. April 1807 an für etwa ein Vierteljahr der französische Kaiser Napoleon sein Hauptquartier im Krieg gegen Preußen hatte.
Von Finckenstein geht es weiter über Bensee nach Buchwalde. Zur ersten der geneigten Ebenen, die den Geserich mit Elbing und der Ostsee verbindet. Obwohl schon vieles darüber geschrieben wurde, kann es nicht den Reiz des eigenen Anschauens ersetzen. Und trotz der gewaltigen ingenieurtechnischen Leistung, die der Königsberger Baurat Steenke hier erbracht hat, mutet der Kanal in unserer Zeit der Großtanker und Schubeinheiten doch eher bescheiden an. Beeindruckend
jedoch, wenn das angestaute Wasser auf die Schaufeln des eisernen Wasserrades sich ergießt und eine solche Kraft erzeugt, die die Schif-fe mühelos den Höhenunterschied überwinden läßt. Hier findet sich auch wieder das alte Denkmal, das die dankbaren Landwirte dem Erbauer des Kanals setzen ließen - nun verschandelt mit einer häßlichen Tafel in polnischer und holländischer Sprache. Holländisch deshalb, weil laut polnischer Geschichtsklitterung der Erbauer des Kanals kein Deutscher sein durfte und kurzerhand zum Holländer deklariert wurde. Interessant in diesem Zusammenhang auch, daß die polnische Verwaltung der Stadt Preußisch Holland Partnerschaftsbeziehungen zu einer niederländischen Stadt unterhält.
Von Buchwalde dann nach Liebemühl, wo sich die beiden Teil-strecken des Kanals treffen. Die eine kommt von Saalfeld und Deutsch Eylau, die andere von Osterode. Hier in Liebemühl vereinen sie sich an einer kleinen Schleuse und gehen den Weg gemeinsam zum Drausensee und nach Elbing. In Liebemühl, wo 1844 der erste Spatenstich für die Erbauung des Kanals in Anwesenheit von Landrat Kuehnast aus Osterode, Superintendent Brachvogel und des Liebemühler Bürgermeisters Sakolowski und unter großer Anteilnahme der Bevölkerung erfolgte, findet sich auch ein prachtvoller Gedenkstein - er ist Papst Johannes Paul II. gewidmet, der einst als Student diese Schleuse im Paddelboot passierte. Da dies zu Zeiten polnischer Verwaltung geschah, kann es nicht wundernehmen, daß ihm seines zuvor gestohlen worden war und er im Boot eines Kommilitonen weiterreisen mußte. Die reuevollen Einwohner haben vor einigen Jahren dem Papst dafür ein anderes geschenkt. Woher sie das wohl hatten? Das Denkmal kündet jetzt jedenfalls von einem sehr reiselustigen Menschen.
Frühling im Oberland: Die Ordensburg Schönberg (rechts) existiert nur noch als Ruine. Fotos (2): Radzimanowski
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