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Endzeitstimmung bei Labour

 
     
 
Die britische Arbeiterpartei Labour kommt derzeit aus den Negativschlagzeilen nicht heraus: Innenminister Charles Clarke entläßt trotz Warnungen seines Ministeriums über 1000 verurteilte Straftäter ausländischer Herkunft, ohne sie, wie vom britischen Gesetzgeber gefordert, abschieben zu lassen oder eine Abschiebung wenigstens zu prüfen. Die britische Polizei offenbart zeitgleich, London sei "außer Kontrolle". Und beides geschieht mitten im Kommunalwahlkampf, in dem Labour eigentlich mit dem Thema Kriminalität
sbekämpfung auftrumpfen wollte.

Konservative und Liberaldemokraten riefen nach Rücktritt, und tatsächlich legte Innenminister Charles Clarke ein entsprechendes Gesuch Premier Blair vor. Was war geschehen? - Ein Skandal, vergleichbar der deutschen Visa-Affäre, nur weitaus weniger inszeniert und mit einem von noch größerer Dreistigkeit geleiteten Hauptdarsteller, erschüttert Großbritannien. Das Innenministerium sei ein "Monster" und unfähig, mit besonderen Gefangenen umzugehen, so David Ramsbotham, seit 2001 britischer Chefinspekteur für Gefängnisse. Über 1000 Nicht-Briten, die sich strafbar gemacht hatten, waren nach Verbüßung ihrer Haft entgegen geltenden Gesetzen einfach freigelassen worden, darunter gefährliche Straftäter. Clarke wußte nachweislich seit Monaten davon, dennoch kamen auch nach Warnhinweisen weiter Hunderte frei.

Im August vergangenen Jahres war Clarke alarmiert worden. Gegen seine Amtsführung spricht, daß ein Viertel der ohne die anschließende Abschiebung Freigelassenen nach dieser Warnung an den Minister entlassen wurde. Es stellte sich sogar heraus, daß die unüberwachten Freilassungen seit diesem Tag im vergangenen Sommer eher noch schneller vonstatten gingen. "Tödlich in Verlegenheit gebracht" habe der Skandal Clarke, so David Davis, konservativer Innenexperte und Hoffnungsträger für den Posten im Schattenkabinett. Aufgrund dieses "sträflichen Versagens, die Sicherheit der Öffentlichkeit zu wahren", sei Clarke nicht mehr tragbar. Auch aus den eigenen Reihen kamen, wenn auch sehr verhalten, Rücktrittsforderungen. Die Labour-Abgeordnete Lindsay Hoyle sagte: "Die Öffentlichkeit erwartet von gewählten Vertretern, daß sie über ihre Position nachdenken, wenn so etwas passiert."

Bis zuletzt hatte Clarke von "sehr, sehr wenigen Gefangenen" gesprochen, die nach seiner Intervention noch freigekommen wären. Anders als bei der deutschen Visa-Affäre spielen beim Versagen der Clarkschen Behörde allerdings ideologische Gründe eine geringe Rolle, ist das Versagen offenbar Unfähigkeit oder Gleichgültigkeit geschuldet. Schon Anfang 2005 will die Labour-Regierung die grundlegenden Abstimmungsprobleme zwischen der Gefängnis- und der Immigrationsbehörde abgestellt haben. Im Februar dieses Jahres wurde klar: Die Regierung setzt nach wie vor das geltende Recht nicht um, schiebt kriminelle Ausländer nicht ab - inzwischen im siebten Jahr. Diese nach britischem Recht eigentlich unmittelbar nach der Haftentlassung abzuschiebenden Ausländer sind keineswegs nur Kleinkriminelle - Vergewaltiger und Pädophile sind darunter. Selbst wenn sie Briten wären, hätten viele der Freigekommenen wegen der Schwere ihrer Taten von Gesetz wegen überwacht werden müssen. "Systematisches Versagen über einen sehr langen Zeitraum" konstatierte daher sogar Premier Tony Blair. Nun beginnt die Polizei, wenigstens die 80 gefährlichsten Täter ausfindig zu machen, unter ihnen fünf Mörder.

Weder Polizei noch Einwanderungsbehörde waren über den Verbleib von mindestens 355 der zirka 1000 eiligst Freigesetzten informiert worden, mußte Clarke einräumen. Die ganze Affäre wächst sich für Clarke und Labour zu einem Reigen der Peinlichkeiten aus. Erst Mitte April hatte Clarke verkündet, gefährliche Kriminelle, die auf Bewährung "draußen" sind, generell stärker überwachen zu wollen. Sie sollten so von erneuten Taten abgehalten werden - nun hat er bewiesen, wie "ernst" es ihm damit ist.

Doch der Abschiebungsskandal um Innenminister Clarke und seine linkische Laxheit ist nur der Gipfel eines Eisberges - es kommen noch mehr scharfe Kanten, sie ritzen an Labours Image. "Mittwoch des dreifachen Fluchs" titelte die britische Presse auch mit Blick auf das Negativ-Echo, das derzeit anderen Labour-Ministern wie der für Gesundheit zuständigen Patricia Hewitt entgegenschlägt. Ein weiterer Tiefschlag für Tony Blairs Glaubwürdigkeit kam tags zuvor ausgerechnet von der britischen Polizei Scotland Yard. Es bestehe die Gefahr, daß ganze Gemeinden im großen Stil durch organisiertes Verbrechen durchsetzt seien, so die Londoner Zentrale. Die Hauptstadt sei zur Drehscheibe einer kriminellen Schattenwirtschaft verkommen. 170 Banden aus 22 Bevölkerungsgruppen hätten das Heft des Handelns in der Hand.

Der größte Teil der Taten werde gar nicht mehr entdeckt, so der Agent Bob Murill der Polizei-Spezialeinheit "operation maxim". In manchen Stadtteilen werde inzwischen die nicht-kriminelle Bevölkerung im großen Stil in die Geschäfte der Gangster hineingezogen. Tariq Ghaffur, der in den 90er Jahren seine Karriere als erster Polizeibeauftragter für ethnische Minderheiten begann, spricht davon, daß "Gemeinden in London im großen Stil kontaminiert" würden. "Es ist außer Kontrolle geraten", resümiert der leitende Agent Murill.

Der britische Bobby, der klassisch uniformierte, unbewaffnete Quartierspolizist, der sein Viertel kennt, hat ausgedient - auch dank Labours Polizeipolitik. Konservative Forderungen nach neuer sichtbarer Polizeipräsenz wies Labour zurück, das jüngste Experiment einer Wiederbelebung des Bobby in New Earswick nahe York wurde abgebrochen. Die Bürger hätten Angst bekommen, heißt es. Offenbar gibt es jedoch nicht nur bei traditionellen Polizeiaufgaben, sondern auch bei Top-Ermittlern Defizite.

Obwohl gerade London zu den polizeilich am besten überwachten Städten der Welt gehört, praktisch jeder verkehrsreiche öffentliche Platz von Videokameras vor die Linse genommen wird, bedroht das Verbrechen nun sogar diesen Welt-Finanzplatz. Callum McCarthy, Vorsitzende der Finanzaufsichtsbehörde, warnt: "Es zeigt sich zunehmend, daß organisierte kriminelle Gruppen ihre eigenen Leute direkt bei den Finanzdienstleistern plazieren." Während Labour die Kriminalität im öffentlichen Raum eingedämmt und unter Kontrolle wähnt, blüht sie im Verborgenen, gehen der britischen Wirtschaft jährlich 21 Milliarden Euro allein durch Finanzbetrug verloren. 36 Milliarden Euro würden vor allem von Drogenkartellen im Land "gewaschen", so McCarthy.

Blairs Versuch, das Organisierte Verbrechen zu einem Hauptthema der in wenigen Tagen anstehenden Kommunalwahlen zu machen, dürfte so nicht nur dank Clarke zum Scheitern verurteilt sein. Labour ist in Meinungsumfragen auf dem tiefsten Stand seit 1987 angekommen.

Unter Druck: Tony Blair (r.) und Charles Clarke
 
     
     
 
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