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Friedliche Rückgewinnung

 
     
 
Eine der letzten Hinterlassenschaften der Unrechtsordnung von Jalta, die russische Enklave Königsberg, bleibt in der Diskussion. Auch in Litauen macht man sich seine Gedanken, was mit dem benachbarten Gebiet geschehen sollte. So auch die in Riga erscheinende, englischsprachige Zeitung für die drei baltischen Länder, "The Baltic Times". Diese bot jüngst einer Stimme ein Forum, die nachdenklich stimmen sollte. "Lithuania considers ties to Kaliningrad" – "Litauen überdenkt Verbindungen zu Königsberg", war der Artikel überschrieben.

Dem deutschen Leser kommt das irgendwie bekannt vor. Wenn er über diese Überschrift nachdenkt, kommt ihm in den Sinn, welche Bedeutung das englische wort ties in unserer jüngsten Geschichte hatte. Im Viermächte-Abkommen über Berlin vom 3. September 1971 las man von den "Bindungen zwischen den Berliner Westsektoren und der Bundesrepublik Deutschland". Im maßgeblichen englischen Text stand dafür das Wort "ties". Die Sowjets interpretierten das lediglich als "Verbindungen", nicht als "Bindungen". So ist das besondere Interesse an den litauischen Vorstellungen geweckt: Bindungen Königsbergs an – oder Verbindungen zu Litauen?

Der ganzseitige Bericht bezieht sich auf Feiern in Litauen anläßlich des 80. Jahrestages einer Erklärung vom 30. November 1918, in der die Vereinigung "Klein-Litauens" mit der damals gerade unabhängig gewordenen Republik Litauen proklamiert wurde. Unter "Klein Litauen" verstand man den vormals historisch Preußisch Litauen genannten nordöstlichen Teil Ostdeutschlands, zu dem Memel, Labiau, Gumbinnen, Insterburg und Darkehmen/Angerapp gehörten, nicht aber Königsberg. Zu diesen litauischen Feiern waren die Festsäle nicht nur mit den gelb-grün-roten Flaggen Litauens, sondern auch mit den von den Litauern als historisch angesehenen Farben grün-weiß-rot für "Klein-Litauen" geschmückt.

Im Parlament von Wilna rief der Abgeordnete Stanislovas Buskevicius aus: "Wir haben Vilnius und Klaipeda zurückbekommen. Wir werden auch Karaliaucius zurückbekommen!" Damit meinte er Königsberg. – Um Verständnis für diese aktuellen Forderungen zu wecken, stellte er "Karaliaucius als die Wiege der litauischen Kultur" dar. "Im Jahre 1547", so der litauische Abgeordnete, "erschien dort das erste Buch in litauischer Sprache. Das erste litauische Gedicht wurde dort im 18. Jahrhundert verfaßt", fuhr Buskevicius fort, "und die ersten Zeitungen in litauischer Sprache, als diese durch die zaristischen Okkupanten aus Rußland verbote
n war."

Das alles ist richtig. Und der deutsche Beobachter ist verunsichert: Kommt also die damalige preußische Liberalität Königsberg noch heute möglicherweise teuer zu stehen? Doch der Abgeordnete Buskevicius geht noch weiter: Nach dem Ersten Weltkrieg sei es Litauen zwar gelungen, im Jahre 1923 Memel zu "gewinnen", jedoch hätten es die litauischen Diplomaten auf internationalen Konferenzen bedauerlicherweise nicht geschafft, die Herrschaft über den Rest "Klein Litauens" und seine Hauptstadt "Karaliaucius" – Königsberg – zu erhalten, das "unter deutscher Verwaltung" verblieben sei.

Buskevicius bemüht im folgenden seine Vorstellungen von den litauischen Wurzeln des Gebiets. Welche deutschen Wurzeln das Gebiet hat, wird indes keiner Erwähnung für würdig befunden. Das könnte ja auch die Argumentationskette stören. Die "moderne litauische Nation", so Buskevicius’ Fazit, "wäre ohne die ,Lietuvininkai‘, die Bewohner Klein-Litauens, etwas ganz anderes". Die heutige Situation des Königsberger Gebiets malt der Abgeordnete in düsteren Farben: "In der Tat ist das heutige Gebiet ein Land des Völkermords."

Die zweite Hälfte des Berichts der "Baltic Times" über das Königsberger Gebiet ist seiner Zukunft gewidmet, die angesichts der Krisen in Rußland ungewisser denn je sei. So gelangten Erzeugnisse der litauischen Landwirtschaft, die eigentlich für den russischen Markt bestimmt seien, als humanitäre Hilfsgüter in das Gebiet. Die Zeitung beschränkte sich indes nicht darauf, starke Worte zu zitieren ("Litauen wird Königsberg zurückerhalten"), sondern forschte auch auch nach den politischen Zielvorstellungen dahinter. Dazu erklärte der litauische Parlamentsabgeordnete Saulius Peceliunas, daß man selbstverständlich die Grenzverträge mit Rußland respektiere, aber man wolle "Klein-Litauen" auf kulturellem Gebiet wiedergewinnen, denn dort lebten 20 000 Litauer. Über ihre Zukunft müßten aber die Bewohner des Gebiets selbst entscheiden. Durch seine zahlreichen Besuche dort habe er, Peceliunas, den Eindruck gewonnen, daß die humanitäre Hilfe die freundliche Stimmung für Litauen im Vergleich zu Deutschen und Polen fördere. Als Mittel zur friedlichen "Rückgewinnung Klein-Litauens" sieht man die Errichtung litauischer Schulen und litauische Investitionen an.

Der Bericht schließt mit dem deutlichen Hinweis, daß diese Absichten nicht von allen Litauern geteilt werden. Nur vier Prozent der einen Million Einwohner des Königsberger Gebiets seien Litauer. Im übrigen erinnert man an die Probleme, die beispielsweise Lettland mit seiner russischen Minderheit hat.

Die "Baltic Times" läßt schließlich hinsichtlich der Zukunft einen spanischen Leser, der die Verhältnisse im Königsberger Gebiet kennt, zu Wort kommen: "Wäre ich ein Bewohner der Enklave und könnte wählen, so würde ich zweifelsfrei Königsberg Kaliningrad oder Karaliaucius vorziehen, weil das die Mitgliedschaft im Europa der Zukunft bedeutete." Ein anderer Leser erinnert an die deutsche Vergangenheit und sieht in einer möglichen Zugehörigkeit zu Deutschland auch für Litauen die größten Vorteile. Die offizielle Vertretung Litauens in Bonn gibt sich derweil diplomatisch: Eine Dame der dortigen litauischen Botschaft, um die richtige Schreibweise für "Karaliaucius" gebeten, merkte nach dem Buchstabieren freundlich an: "Aber das ist ein Name aus früherer Zeit."

 
     
     
 
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