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Vergessene Kultur Kirchen in Nord-Ostdeutschland" so lautet der Titel einer Ausstellung, die erstmalig 1997 auf dem Deutschlandtreffen der Aktion Freies Deutschland gezeigt wurde und die seitdem an zahlreichen Orten für große Aufmerksamkeit und Betroffenheit gesorgt hat. Sie dokumentiert die in der Öffentlichkeit bisher kaum wahrgenommene Zerstörung eines europäischen Kulturgutes: Nach über 700jähriger deutscher Herrschaft befanden sich auf dem heute russischen Territorium von Ostdeutschland 224 Kirchen. Über ein Drittel von ihnen stammte noch aus der Zeit des Deutschen Ordens ; sie waren Zeugnisse der norddeutschen Backsteingotik in Verbindung mit der besonderen Architektur des Ordens. Von den 224 Gotteshäusern sind heute 91 völlig und 67 fast vollständig vernichtet. Die restlichen Kirchen fristen zumeist als Getreidespreicher, Lagerhallen oder Viehställe ein klägliches Dasein und verfallen zusehends.
Es ist das Verdienst des Königsberger Fotografen Anatolij Bachtin, unseres heutigen Preisträgers, diese offenkundige Vernichtung von sakralen Kulturdenkmälern dokumentiert und in der Öffentlichkeit publik gemacht zu haben.
Im nach dem Krieg russisch gewordenen Königsberg wurde Anatolij Pawlowitsch Bachtin 1949 geboren. Seine Kindheit verbrachte er im Stadtteil Ponarth. In den Ruinen und verwüsteten Gärten stieß er ständig auf die Spuren der früheren Bewohner. Insbesondere die Kirchen, die in der Trümmerlandschaft häufig den einzigen Orientierungspunkt boten, weckten früh sein Interesse. Im Anschluß an die Schul- und Armeezeit studierte er an der Kunsthochschule in Moskau Malerei und arbeitete parallel als Matrose auf einem Schleppdampfer.
Anfang 1977 kehrte Bachtin nach Königsberg zurück. Mit Erschrecken mußte er feststellen, daß im Rahmen des sogenannten sozialistischen Wiederaufbaus die Reste der historischen Bausubstanz Königsbergs, darunter 1976 die noch gut erhaltene Lutherkirche, zerstört wurden. Wie nicht wenige seiner Generation begann sich Bachtin näher für ostdeutsche Geschichte zu interessieren. Ihm kam der Gedanke, er müßte versuchen, das, was an historischer Bausubstanz noch vorhanden war, fotografisch festzuhalten. Mitte 1980 Bachtin war inzwischen als Fotograf hauptamtlicher Mitarbeiter des Gebietsstaatsarchivs geworden fing er an, seinen Blick auch auf die Kirchen außerhalb Königsbergs zu richten. Er weitete seine Forschungen auf die Zeit nach 1945 aus und versuchte durch mühselige Befragungen der Dorfbewohner Informationen über den Umgang mit den Gotteshäusern in russischer Zeit zu erfahren. Die Aussagen protokollierte er und allmählich gewann er auf diesem Weg ein zutreffendes Bild vom Geschehen. Bachtin gelangte zu dem schockierenden Ergebnis, daß die meisten Kirchen nicht durch Kriegseinwirkungen zerstört wurden, sondern erst dem Vandalismus und der Nachlässigkeit in der Nachkriegszeit zum Opfer gefallen waren. Auch einen anderen weit verbreiteten Irrtum korrigierte er: Es war nicht so sehr das sowjetische Militär, sondern es waren vor allem die Verwalter von Kolchosen und anderen Betrieben, die durch die anfängliche Verwendung als Lagerräume und spätere Nutzung als Steinbrüche die Kirchen häufig zerstört hatten. Und zwar in allen Jahrzehnten seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges bis in die jüngste Gegenwart hinein.
Anfang 1990 wurde der wissenschaftliche Mitarbeiter an der Ostakademie Dr. Gerhard Doliesen mit der Arbeit Bachtins konfrontiert. Von ihm stammt der Gedanke, die wichtigen Forschungen der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. So entstand 1997 mit finanzieller Hilfe der öffentlichen Hand und privater Stiftungen auf der Basis des Fotomaterials von Bachtin die Wanderausstellung "Vergessene Kulur Kirchen in Nord-Ostdeutschland", die seit ihrer Fertigstellung in zahlreichen deutschen Großstädten für Furore gesorgt hat. Ergänzend erschien 1998 im renommierten Husum-Verlag auf der Grundlage der Ausstellung ein gleichlautender Bildband, der ebenfalls weithin Beachtung gefunden hat.
Bestand haben kann nur eine Geschichte, die sich der Wahrheit verpflichtet fühlt. Anatolij Bachtin ist einer derjenigen, die mit Ehrlichkeit und Mut einen Beitrag zu dieser Geschichte leisten. In seinen Arbeiten wird nichts beschönigt oder verschwiegen. Seine Dokumentation ist eine herausragende kulturelle Leistung. Daß es heute einige wenige Wiederaufbauprojekte bedeutender spätmittelalterlicher Kirchen im nördlichen Ostdeutschland gibt, ist auch ein Verdienst von Anatolij Bachtin, der die Kirchen dem Vergessen entrissen und die öffentliche Schweigemauer über diesen "Kultuozid" durchbrochen hat. Zugleich steht sein Engagement für das wachsende Interesse der heute im Königsberger Gebiet lebenden Russen für die Geschichte dieser untergegangenen mitteleuropäischen Kulturlandschaft. Daß heute 43 Jahre nach der Stiftung des Ostdeutschen Kulturpreises im Jahre 1957 erstmals ein Russe den Preis erhält, ist ein hoffnungsvolles Zeichen. Es steht für das menschliche Vertrauen und das Verständnis, das sich seit der Öffnung der Grenzen zwischen den alten und neuen Bewohnern Nordostpreußens entwickelt hat. Zu diesem Brückenschlag haben von deutscher Seite vor allem die Vertriebenen mit ihren Einrichtungen beigetragen.
Die Freundeskreis Ostdeutschland verleiht Anatolij Bachtin in Anerkennung seiner hervorragenden dokumentarischen Arbeit über die Kirchen im nördlichen Ostdeutschland den Ostdeutschen Kulturpreis für Publizistik des Jahres 2000.
Mein Dank im Namen des Bundesvorstands der Freundeskreis Ostdeutschland gilt dem Bayerischen Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familien, Frauen und Gesundheit, das die Finanzierung des Kulturpreises zu einem großen Teil übernommen hat.
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