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Über zehn Millionen Flüchtlinge und Vertriebene kamen nach 1945 in die westlichen Besatzungszonen. Die Ausstellung "Aufbau West" im Westfälischen Industriemuseum Zeche Zollern II / IV in Dortmund erzählt ihre Geschichte und berichtet über ihre Erfahrungen. Sie zeigt, wie die Menschen aus Ost und West den schwierigen Neuanfang bewältigten, die Produktion in Fabriken und Bergwerken wieder in Gang setzten und in Betriebe n und Siedlungen zueinander fanden.
300 Objekte, 40 Lebensgeschichten sowie zahlreiche historische Fotos, Film- und Tondokumente begleiten die Besucher auf ihrer Zeitreise von 1945 bis in die Gegenwart. Die Ausstellung macht damit ein wichtiges und bislang kaum beleuchtetes Stück deutscher Zeitgeschichte lebendig. Denn fest steht: Arbeitskräfte, Wissen und Unternehmergeist aus dem Osten haben maßgeblich zum Wirtschaftswunder beigetragen. Darüber hinaus regt die Ausstellung "Aufbau West" Fragen an, die auch für die heutige Diskussion um Migration und Integration wichtig sind: Was bedeutete nach dem Krieg der Verlust von Heimat? Wie wurden die Menschen aus dem Osten im Westen empfangen? Welche Akzente haben die Zuwanderer von damals gesetzt?
Das Bauunternehmen Rygol ist vielen Bochumern ein Begriff, weil die Firma in der Stadt zahlreiche Schul- und Verwaltungsgebäude, Siedlungen sowie Wohn- und Geschäftshäuser errichtet hat. Auch beim Bau der Ruhr-Universität war Rygol beteiligt. Ursprünglich stammt die Firma aus Oberschlesien, wo Firmengründer Johann Rygol Ziegeleien, ein Baugeschäft mitsamt Sägewerk, Tischlerei und Schmiede führte. Albert Rygol trat beruflich in die Fußstapfen seines Vaters. Nach dem Krieg begründete er in Bochum eine neue Existenz. Beruflich faßte der Bauingenieur noch im gleichen Jahr beim damaligen Bauunternehmen Nickel Fuß. Über das Bauen in den schweren Nachkriegsjahren berichtet Rygol heute: "Damals waren wir gezwungen, wieder wie um 1900 zu bauen. Handarbeit war gang und gäbe, und besonders in den Jahren 1948 / 49 konnte man Baumaterial wie Zement oder Baustahl nur über Beziehungen erhalten. Zumeist stammte das Material aus zerstörten Altbauten, und die Ziegel wurden von Trümmerfrauen recycelt. Baustahl erhielt man nur beim Schrottplatz." Nach dem Tod des Inhabers der Firma Nickel erwarb Albert Rygol den Betrieb 1952 und baute ihn in den Folgejahren aus. Erst 1981 zog er sich aus der Firma zurück und übergab das Baugeschäft an seinen Sohn Burkhard. Es ist bis heute in Familienhand.
Auch ehemals mitteldeutsche Unternehmen und ihr Anteil am Wiederaufbau werden in der Ausstellung gewürdigt, so die Hersteller von Spezialglas aus Thüringen. Erschreckend und faszinierend zugleich wirken die Glasaugen aus Wertheim, die den Besucher beim Blick in eine Vitrine anstarren. Ob nun gläserne Prothesen, Babyflaschen, Teekannen oder Laborgeräte: Die Hersteller in Thüringen lagen bei der Produktion von Spezialglas weit vorn. Firmen wie Schott und Zeiss hatten bis 1945 weltweit eine Monopolstellung. Viele der Glasproduzenten ließen sich im badischen Wertheim nieder, wo bereits 1946 mit der Laborglasproduktion begonnen wurde. Der Standort entwickelte sich mit den Jahren zu einem Zentrum mit Weltruf, was die Glasverarbeitung für Haushalt, Industrie sowie für chemische und medizinische Zwecke anging. 1966 gaben die ansässigen Betriebe insgesamt 4000 Menschen Arbeit. Zu ihnen gehörte auch Bruno Köhler, der mit Fingerspitzengefühl täuschend echt aussehende Glasaugen bemalte. Dabei war Köhler vor allem für seine exakte Nachbildung der roten Äderchen in den Augen bekannt.
Ganz andere Ausmaße hat ein weiteres Exponat: Gut drei Tonnen bringt der stählerne Riese mit der Maschinennummer H 49 auf die Waage. Drei Tonnen Gußeisen, Stahl und jede Menge Blech. Um so erstaunlicher, daß der Koloß feinsten Maschendraht webt. Teilweise demontiert und durch die DDR-Regierung enteignet, stand die Maschinenfabrik Emil Jäger im thüringischen Neustadt / Orla in der Nachkriegszeit faktisch vor dem Aus. Der Firmenchef floh 1948 in den Westen, um dort sein Familienunternehmen wieder aufzubauen. In der Geschichte des Unternehmens nimmt der Drahtwebstuhl H 49 eine ganz besondere Position ein: Als ein frühes Produkt der jungen Firma in Hamm symbolisiert er den Neuanfang der Fabrik im Westen und damit den Beginn der erfolgreichen Unternehmensentwicklung. Bis 1995 bei der Firma Neuwa in Menden (Märkischer Kreis) in Betrieb, nahm das Westfälische Industriemuseum den geschichtsträchtigen Drahtwebstuhl noch im gleichen Jahr in seine Sammlung auf. lwl
Die Ausstellung im Westfälisches Industriemuseum Zeche Zollern II / IV, Alte Werkstatt, Grubenweg 5, 44388 Dortmund-Bövinghausen, ist Dienstag bis Sonntag von 10 bis 18 Uhr geöffnet, Eintritt: 5 / 3 Euro, bis 26. März, Katalog 19,90 Euro.
Eingang zur Zeche Zollern: Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe zeigt im Westfälischen Industriemuseum eine Ausstellung über den Neubeginn nach dem Zweiten Weltkrieg. |
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