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Die seit 15 Jahren erfolgenden Transfers zum Wiederaufbau einer wettbewerbsfähigen und gesunden Wirtschaftsstruktur in den neuen Bundesländern haben mittlerweile eine Summe von rund 1100 Milliarden Euro erreicht. Zweifellos hat dieser in seinen Dimensionen wohl weltweit einmalige Vorgang auch beachtliche Erfolge erzielt. Beachtlich vor allem dann, wenn man sie vor dem Hintergrund des totalen politischen und wirtschaftlichen Zusammenbruchs sieht, die DDR war 1990 einfach am Ende. Sie war handlungs- und zahlungsunfähig, das System hatte sich selbst erledigt. Wenn der Wiederaufbau Ost heute noch große weiße Flecken auf der Landkarte aufweist, so gibt es hierfür eine Reihe von Gründen, über die Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Medien kräftig streiten, wobei der Grund, daß zu wenig Geld geflossen sei, von vornherein ausscheiden dürfte. Zuviel Prinzip Gießkanne bei der Verteilung, zu wenig sinnvolle Investitionen, zuviel für den Konsum, so lauten einige der kritischen Kommentare. Konstruktive Vorschläge, die Klaus von Dohnanyi in jüngerer Vergangenheit unterbreitete, bedürfen wohl mehr als zaghafter Unterstützung, um die erhoffte Wirkung zu zeigen. Aber um das Kernproblem zu lösen, die in etlichen Regionen dominierende Perspektivlosigkeit, die Abwanderung junger, meist gut ausgebildeter Menschen von Ost nach West (etwa zwei Millionen) und die bedrohliche Höhen erreichende Arbeitslosigkeit in den Griff zu bekommen, ist eine flächendeckende Re-Etablierung des Mittelstandes unabdingbare Voraussetzung. Es ist allgemein bekannt, daß der Mittelstand in Deutschland zirka 75 Prozent der Arbeitsplätze stellt. Das war vor dem Kriege so und ist heute nicht anders. Ein ganz wesentlicher Grund für die gravierende Arbeitsplatzproblematik in weiten Teilen der neuen Bundesländer dürfte im Fehlen eines breiten Mittelstandes zu finden sein. Diese Erkenntnis scheint bei unseren "Machern" in Politik, Wirtschaft und den Medien bislang nur wenig verbreitet zu sein. Vielleicht ist in unserer schnellebigen Zeit die Erinnerung daran verblaßt, daß ab 1945 in der sowjetisch besetzten Zone durch die Besatzungsmacht und das von ihr etablierte kommunistische Regime ein Kernpunkt der marxistisch-leninistischen Ideologie verwirklicht wurde: die Entmachtung, das heißt Vernichtung der wirtschaftlichen Existenzgrundlagen, der "Bourgeoisie". Was hier stattfand, waren gezielte Maßnahmen der Entrechtung, Vertreibung, Eigentumsentziehung, oft verbunden mit Verhaftungen und Tötung, ganz im Sinne des ideologisch fundierten, totalitären Regimes mit der Absicht, die ökonomischen Organisationsstrukturen der Bürgergesellschaft und die sie begründenden Eigentumsrechte zu zerstören. Hunderttausende mittelständischer Unternehmen wurden vernichtet, wobei keineswegs nur großer Landbesitz verstaatlicht wurde. Fabriken, Handwerksbetriebe und Hausbesitzer waren ebenso betroffen. Schließlich war die Abschaffung des produktiven Privateigentums das erklärte politische Ziel.
45 Jahre danach erlebten wir den Bankrott der DDR, den Zusammenbruch der marxistisch-leninistischen Diktaturen im gesamten Ostblock. Das "System" hatte sich als Fehlleistung entpuppt. Es starb an innerer Auszehrung. Die Regime verschwanden, aber die Folgen des von ihnen angerichteten Unrechts spüren wir, wie in unterschiedlichem Grade auch unsere Nachbarn im Osten, noch heute. Unser Vorteil ist, daß ein großer Teil der in der DDR enteigneten und vertriebenen Mittelständler nach der Flucht in den Westen Unternehmen gründete, was zum "Wirtschaftswunder" in der Bonner Republik erheblich beitrug. Wäre nach der Wiedervereinigung für diese Familien ein zumutbarer Weg eröffnet worden, an ihre alte Wirkungsstätten zurückzukehren, dürften wohl die meisten von ihnen Kapital und unternehmerisches Können in den Aufbau Ost eingebracht haben.
Fakt ist, daß 15 Jahre nach der Wiedervereinigung unser Staat noch auf etwa zwei Dritteln des erwähnten, zu hoch eingeschätzten Volksvermögens sitzt, daß seit 1995 die Preise für Immobilien in den neuen Bundesländern per Saldo fallen und daß eine Etablierung von Mittelstand dort, von einigen Ausnahmen abgesehen, nicht stattgefunden hat, mit den bereits erwähnten negativen Auswirkungen auf die Arbeitsplatzsituation und das wirtschaftliche Veröden etlicher Dörfer und Städte. Es ist viel darüber gestritten worden, wieweit die Gründe für das im Einigungsvertrag verankerte Rückerstattungsverbot einer objektiven Prüfung standhalten können. Den Protagonisten der damaligen Entscheidungen fällt es offensichtlich immer schwerer, die Version zu verkaufen, die Wiedervereinigung sei auf Grund sowjetischer und DDR-Einwände ohne Verzicht auf Rückerstattung nicht möglich gewesen. Jedenfalls hat Constanze Paffraths Buch "Macht und Eigentum" vielerorts Nachdenken ausgelöst, wo bisher Gleichgültigkeit oder Vorurteil herrschten. Aufschlußreich hierzu war im vergangenen Jahr besonders eine TV-Sendung bei Phönix unter dem Titel "Enteignet für die Einheit?" Zwar gelang es der Bundesregierung, die erforderliche Mehrheit des Bundestags (und wohl auch das Bundesverfassungsgericht) im Rahmen des Zustimmungsgesetzes zum Einigungsvertrag in der Schlußabstimmung vom 20. September 1990 von ihren Gründen für die Ergänzung des Grundgesetzes (GG) in Artikel 143 zu überzeugen. Hiernach können die gewaltsamen Eingriffe ins Eigentum (1945-1949) nicht mehr rückgängig gemacht werden. Aber immerhin gaben 112 Bundestagsmitglieder damals eine Protesterklärung heraus. Ihnen jedenfalls waren die tiefgreifenden moralischen, rechtlichen und politischen Folgen der wie auch immer begründeten Abweichung von den im GG festgelegten Grundwerten klar vor Augen. Fraglos stellt die erwähnte Grundgesetzergänzung nun einen Teil der deutschen Staatsbürger unter ein besonderes, minderes Recht. Die Grundlagen des Unrechtsstaates DDR und die Unrechtsmaßnahmen in der sowjetischen Besatzungszone werden jedenfalls gegenüber dem Kreis der Enteigneten nachträglich sanktioniert, weil für rechtens erklärt. So sind dann im Verlauf der Jahre runde 1,7 Millionen Rückerstattungsanträge abgelehnt worden. Das Bundesverfassungsgericht beruft sich natürlich auf den Nachtrag zum GG in Artikel 143 und sieht keine Möglichkeit, den deutschen Bürgern minderen Rechts zu dem Recht zu verhelfen, das allen anderen uneingeschränkt zur Verfügung steht. Ein Zustand, der einer freiheitlichen Demokratie und eines Rechtsstaates unwürdig ist. Er bedarf aber auch aus dem schon zuvor erläuterten Grund (der Ermöglichung des Zugangs rückkehrwilliger Mittelständler zu ihrem ehemaligen Besitz, sofern dieser noch in Staatshand ist) dringend einer Korrektur.
Welch groteske Blüten die zur Zeit gültige "Rechtslage" zeitigt, soll an einem Beispiel erläutert werden. Die Nachfahren einer heute in Hamburg lebenden Familie hatten sich nach der Wende bemüht, Haus und Betriebsgrundstück ihrer Eltern in Wittenberge an der Elbe zurückzuerhalten. Die Eltern hatten dort eine Autoreparaturwerkstätte betrieben (1939 noch mit acht Mitarbeitern). Aufgrund einer Denunziation durch Nachbarn wurden die Eltern im Jahre 1947 enteignet und von Haus und Hof vertrieben, obwohl sie weder Mitglied der NSDAP waren noch die damaligen Machthaber in keiner Weise unterstützt hatten. Sie wurden Opfer der Schikane eines ansässigen Kommunisten. Die Treuhand hat das Rückgabeersuchen abgelehnt unter Verweis auf Urteile des Bundesverfassungsgerichts. Das Elternhaus der Antragsteller wurde von der Treuhand 1992 an einen alten Stasimitarbeiter verkauft. Das Betriebsgrundstück mit darauf stehendem Gebäude wurde von der Treuhand zweimal mit erheblichen Zuschüssen an ausländische Investoren veräußert. Beide Investoren gingen Pleite. Das Haus ist heute eine Ruine und das Grundstück eine Brache. Die Nachfahren der enteigneten Familie wandten sich kürzlich an den Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts mit der Frage, ob Bereitschaft zur Wiederaufnahme von Verfahren bestünde, die ja in ihrem Urgrund auf falschen Voraussetzungen beruhten. Das Bundesverfassungsgericht hat solches natürlich abgelehnt mit Hinweis auf die Unanfechtbarkeit seiner Urteile auf nationaler Ebene. Die Verfahren seien endgültig abgeschlossen. Es liegt auf der Hand, daß die Institution, welche für die makellose Einhaltung des Grundgesetzes letzte Entscheidungsvollmacht besitzt, angesichts des am 20. September 1990 vom Bundestag beschlossenen Zusatzes zu Artikel 143 des GG keine Initiative ergreifen kann (oder will), die eine Wiedereinführung gleichen Rechtes für alle Bürger der Bundesrepublik zur Folge hätte. Wie die Dinge liegen, muß eine solche Initiative von der Legislative, also vom Bundestag selbst, ausgehen, möglicherweise nunmehr unterstützt von der Exekutive, der Bundesregierung. Letztere könnte unter Verzicht auf jegliche Schuldzuweisung hinsichtlich tatsächlicher oder vermeintlicher Sachzwänge, die unsere zur Zeit der Wende amtierende Bundesregierung dazu veranlaßte, einen Spagat zwischen Opportunität und Treue zu den Grundwerten unserer Demokratie zu wagen, nun in Würdigung der mittlerweile erkennbaren Schäden der strikten Anwendung des Rückerstattungsverbotes eine Revision des Zusatzes in Artikel 143 empfehlen. Etwa dergestalt, daß heute noch in Staatshand befindliche Immobilien aus dem "volkseigenen" Besitzstand der damaligen DDR-Regierung zumindest den Enteigneten beziehungsweise deren Nachfahren rückzuerstatten sind, die bereit sind, einen unternehmerischen Neuanfang in ihrer alten Heimat zu wagen. So könnte der Wiederaufbau mittelständischer Strukturen in den neuen Bundesländern Impulse erhalten, welche die öffentliche Hand nicht belasten, ihr auf längere Sicht aber helfen können, die mehrfach erwähnten Probleme beim Aufbau Ost zu reduzieren, wenn nicht zu lösen.
Fehler einzusehen ist kein Zeichen von Schwäche, sondern von Intelligenz, Irrtümer zu korrigieren das Gebot der Stunde. Gesetze sollten nicht der Fortführung von Unrecht dienen. Aus kommunistischem Unrecht sollte kein demokratisches Recht werden. |
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