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Berlins Mitte soll in den kom-menden Jahren zu dem Ort werden, in dem Deutschland symbolisch, räumlich und architektonisch zu sich selbst finden kann. Dazu ge-hört der Wiederaufbau des Stadtschlosses, von den Kommunisten gesprengt, um preußische und deutsche Traditionen zu zerstören. Dafür wird die Abrißbirne den Palast der Republik treffen, jenen sozialistische n Prunkbau, den die SED an Stelle des Hohenzollernschlosses errichtete. Architektonisch als häßlich empfunden, soll er seinem eindrucksvollen Vorgänger wieder weichen. So weit, so gut.
Doch eine Frage bleibt: In dem Teil des Republik-Palastes, der dem Berliner Dom am nächsten gelegen ist, tagte nicht nur in den langen Jahrzehnten der kommunistischen Herrschaft zwei- bis dreimal jährlich für eine knappe Woche die "Volkskammer", jenes Scheinparlament der DDR, für das es weder freie noch geheime Wahlen gab und dessen Sitzverteilung feststand, noch bevor die Bevölkerung "falten ging". In diesem Teil des Gebäudes tagte auch während und nach der friedlichen Revolution der Jahre 1989 und 1990 die frei gewählte Volkskammer. Diese große Deutsche Revolution, die welthistorisch mindestens den selben Rang beanspruchen kann wie die Französische Revolution des Jahres 1789, ist dieser sogar moralisch weit überlegen, weil sie friedlich verlief und keiner Guillotine und Massenmorde bedurfte, um erfolgreich zu sein. Sie besiegelte das Ende des menschenverachtenden, im Marxismus begründeten Kommunismus und eröffnete dem gesamten Europa eine auf Freiheit und Demokratie begründete Perspektive.
Die ersten und einzigen freien Parlamentswahlen in der DDR brachten bei einer Wahlbeteiligung von 93,4 Prozent der von der CDU angeführten "Allianz für Deutschland" mit knapp 48 Prozent den Sieg, weil sie sich für eine baldige Wiedervereinigung ausgesprochen hatte. Aus den Allianzparteien, der SPD, der DSU und den Liberalen wurde eine breite Koalitionsregierung gebildet mit dem Ziel der Vereinigung "so schnell wie möglich und so gut wie möglich".
Die konzentrierte Arbeit dieser Volkskammer erforderte eine enorme Leistung, gemeinsam mit dem Einheitsausschuß des Deutschen Bundestages. Die Ratifizierung des Vertrages über die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion, die Demokratisierung und Föderalisierung erbrachten in der kurzen Zeit von April bis Ok- tober 1990 164 Gesetze und 93 Beschlüsse. An diese Ergebnisse beck-messerisch heranzugehen und sie an denen erfahrener Parlamente beurteilen zu wollen, ist unangemessen. Die günstige Weltlage und die sich ständig verschlechternde Lage in der DDR standen dabei immer vor Augen. Das alles geschah in einem "Parlament, das sich selbst abschaffen wollte", wie es der SPD-Fraktionsvorsitzende Richard Schröder formulierte.
In den frühen Morgenstunden des 23. August 1990 beschloß die Volkskammer mit 294 gegen 62 Stimmen bei 7 Enthaltungen den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland mit Wirkung vom 3. Oktober 1990. Der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker sagte später über die Parlamentarier dieser Volkskammer: "Mit einer Hingabe ohnegleichen rangen sie um Lösungen. Ihr Mangel an professioneller Parlamentsroutine gehörte deshalb zu den Vorzügen, weil sie sich nicht gegenseitig festnagel-ten ... Die kurze Arbeitszeit der freigewählten Volkskammer in der DDR gehört zu den besten Kapiteln in der deutschen Parlamentsgeschichte."
Mit dem gesamten "Palast der Republik" erwartet jetzt auch der geschichtsträchtige Teil der ehemaligen Volkskammer die Abrißbirne. "Häßlich" mag er heute erscheinen, häßlich war auch manches an der deutschen Geschichte.
In welchem Land der Welt könnte vergleichbare Geschichtslosigkeit geschehen? In den USA gewiß nicht, wo das Haus, in dem einst das erste Sternenbanner genäht wurde, zum nationalen Monument erklärt wurde. Aber Deutschland hat auch in Bonn den alten Plenarsaal des Bundestages abgerissen, in dem einst Adenauer, Erhard, Schumacher und Heuß nach dem Zusammenbruch Deutschland frei und demokratisch neu begründeten ...
Die Erhaltung des Volkskammer-Teils im "Palast der Republik" würde die Pläne des Schloßaufbaus nicht unmittelbar tangieren, wohl aber das Gesamtensemble in seiner Ästhetik erheblich beeinträchtigen. Die Entscheidung lautet: Ästhetik oder Geschichte am Ort ihres Geschehens, mitten in der Hauptstadt Berlin. Schon erinnern kaum noch Teile der Mauer und des Stacheldrahts in Berlin und an der früheren Zonengrenze an die fast ein halbes Jahrhundert dauernde Teilung Deutschlands. Im Zentrum des politischen Geschehens, am Reichstagsgebäude, soll ein in das Pflaster eingelassener, achtlos überschreitbarer Metallstreifen an die Mauer erinnern, an der Menschen ermordet wurden, weil sie von Deutschland nach Deutschland wollten.
Fest steht: Die Geschichtslosigkeit der Jugend ist immer ein Spiegel des Verhaltens der Elterngeneration. Wenn die beachtlichen historischen Beiträge der Deutschen zur Freiheit in der Welt nicht sichtbar bleiben oder wieder sichtbar gemacht werden, darf man sich über den Mangel an demokratischen Patriotismus nicht beklagen. |
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