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Gilt der umrechnungsfaktor 10?

 
     
 
Französischen Untersuchungen zufolge soll es in Deutschland gegenwärtig mehr politische Gefangene geben als in der "DDR" vor dem Jahr des Zusammenbruchs. Dies jedenfalls behauptete der ehemalige RAF-Anwalt Horst Mahler in einem Artikel, der unmittelbar nach der Bundestagswahl am 30. September 1998 in der "Süddeutschen Zeitung" veröffentlicht wurde. Nur, so Mahler, würden diese Überzeugungstäter hierzulande nicht als politische Gefangene wahrgenommen, sondern als Neo-Nazis aus dem politischen Spektrum ausgegrenzt.

Daß es in der Bundesrepublik Deutschland
wegen politischer Strafdelikte einsitzende Gefangene gibt, wird auch von staatlichen Behörden nicht bestritten. Für eine Bewertung des von Mahler kritisierten Sachverhalts ist es jedoch viel bedeutsamer, auf das Ausmaß der Strafverfolgung wegen angeblicher oder tatsächlicher politischer Straftaten durch die staat-lichen Strafverfolgungsbehörden hinzuweisen.

Tatsächlich ist die Zahl der Verurteilungen wegen politischer Strafdelikte in Deutschland weitaus größer, als allgemeinhin vermutet wird. Dies ergibt sich aus der Beantwortung zweier parlamentarischer Anfragen aus dem baden-württembergischen Landtag durch die dortige Landesregierung. Schon im Mai 1998 hatte sich der Abgeordnete Michael Herbricht nach dem Umfang der in Baden-Württemberg wegen eines Verstoßes gegen die §§ 130 und 131 des Strafgesetzbuchs (sog. Volksverhetzung bzw. Gewaltdarstellung) eingeleiteten Strafverfahren erkundigt (DS 12/28/78). Wie der zuständige Justizminister Goll (FDP) in seiner Antwort darlegte, wurde allein in Baden-Württemberg in den fünf Jahren zwischen 1992 und 1996 in insgesamt 1517 Fällen ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts einer Straftat nach den §§ 130 und 131 eingeleitet. 1997 waren es 229 Ermittlungsverfahren. Von 1990 bis 1996 wurden in Baden-Württemberg insgesamt 1275 Personen wegen Volksverhetzung oder Gewaltdarstellung verurteilt. In 74 Fällen kamen die Verurteilten mit Geldstrafen davon. 46mal wurde eine Freiheits- bzw. Jugendstrafe mit Strafaussetzung zur Bewährung ausgesprochen, neunmal wurden Freiheitsstrafen bis zu zwei Jahren ohne Bewährung verhängt. Vergleichszahlen aus den anderen Bundesländern lagen dem Justizminister angeblich nicht vor.

Am 1. Dezember 1998 beantwortete Justizminister Goll darüber hinaus eine weitere Anfrage des Abgeordneten Herbricht (DS 12/3430) nach "Straftaten im Sinne des Staatsschutzrechts". Hinter diesem juristischen Fachbegriff verbergen sich alle Strafdelikte, die als Gefährdung des demokratischen Rechtsstaats verstanden werden. Dazu zählen etwa Tatbestände wie die Fortführung einer für verfassungswidrig erklärten Partei (§ 844 Strafgesetzbuch), das Verbreiten von Propagandamitteln oder Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen (§§ 86, 86 a), die verfassungsfeindliche Einwirkung auf Bundeswehr und Sicherheitsorgane (§ 89), die Verunglimpfung des Staates, seiner Repräsentanten und Organe (§§ 90, 90 a 90 b), Agententätigkeit (§§ 98, 99), aber auch die Bildung einer kriminellen oder terroristischen Vereinigung (§ 129, 129 a). Wie sich aus der Antwort der Landesregierung erschließt, wurde im Zeitraum zwischen 1991 und 1997 in Baden-Württemberg praktisch täglich von den Staatsanwaltschaften mindestens ein Ermittlungsverfahren wegen eines oder mehrerer Staatsschutzdelikte eingeleitet. Insgesamt wurde in 2565 Fällen ermittelt. Im selben Zeitraum wurden ausweislich der Strafverfolgungsstatistik 650 Personen wegen entsprechender Taten abgeurteilt. In 311 Fällen wurde eine Geldstrafe ausgesprochen. In 104 Fällen kam es zu einer Verurteilung zu Freiheitsstrafe, die in 77 Fällen zur Bewährung ausgesetzt wurde. In insgesamt 216 Fällen wurden Zuchtmittel oder Erziehungsmaßregeln nach dem Jugendstrafrecht verhängt. Bei den 19 Verurteilungen nach dem Jugendstrafrecht wurde in sechs Fällen keine Bewährung zuerkannt.

Alle Freiheitsstrafen ohne Bewährung bewegten sich im Bereich von einem Jahr bis maximal fünf Jahren Freiheitsstrafe. Wiederum wurde darauf verwiesen, daß dem Justizministerium in Stuttgart angeblich eine vergleichende Auswertung mit den entsprechenden Fällen aus anderen Bundesländern nicht vorliege. Auch könne die Frage nicht beantwortet werden, wie viele dieser Straftaten jeweils dem politischen Links-, Rechts- oder Ausländerextremismus zugeordnet werden, da keine Erfassung der entsprechenden Kriterien erfolge. Aufgrund ähnlicher Strukturen wird man allerdings die Zahlen aus Baden-Württemberg etwa mit dem Faktor 10 auf die gesamte Bundesrepublik hochrechnen dürfen, ohne dabei zu überzogenen Übertreibungen zu gelangen. Der Abgeordnete Herbricht zeigte sich vom Umfang der Strafverfolgung wegen politischer Strafdelikte bestürzt und kündigte weitere Nachfragen an. "Es ist mir unbegreiflich", so Herbricht, "warum sich die Medien dieses Themas nicht annehmen."

 
     
     
 
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