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Wie es wirklich gewesen ist - dies und nichts anderes soll laut Ranke der Historiker erforschen und der Nachwelt vermitteln; „die Wahrheit und nichts als die Wahrheit“, wie es vor Gericht heißt. Das klingt einleuchtend und einfach. Das einzige Problem: Was ist die Wahrheit? Gibt es wirklich nur die eine, für alle gültige Wahrheit? Und wer ist dann in ihrem Besitz? Oder schafft sich jeder seine eigene Wahrheit? Gibt es - zum Beispiel - eine Wahrheit der Sieger und eine andere Wahrheit der Verlierer?
Genau diesen Eindruck mußte man in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten immer dann gewinnen, wenn es darum ging, in Deutschland „Vergangenheit zu bewältigen“. Die Sieger schrieben das Geschichts buch der Deutschen zum Verbrecheralbum um. Unter den Verlierern verfiel eine kleine radikale Minderheit in das entgegengesetzte Extrem, die weitaus meisten aber zogen es vor zu schweigen. Man hüte sich, das als „Flucht aus oder gar vor der eigenen Vergangenheit“ zu diskriminieren; ihnen war der Mut, sich offen zu dem, was sie mit einiger Berechtigung als historische Wahrheit sahen, zu bekennen, allzu gründlich ausge- trieben worden. Wobei auffällt, daß die besonders eifrigen „Vergangenheitsbewältiger“ vor allem die Vergangenheit aller anderen „bewältigen“, die eigene aber sorgfältig als Tabu hüten. Solche Ideologen stärken nur die Sicht der Sieger.
Zur Wahrheit der jüngeren Geschichte Deutschlands und Europas gehört auch, daß Mitte der 40er Jahre rund 15 Millionen Deutsche aus ihrer Heimat verjagt wurden, daß dabei rund drei Millionen Menschen ihr Leben verloren - erfroren, verhungert oder brutal ermordet, schlimmste Verbrechen gegen Völkerrecht, Menschenrechte und Menschlichkeit.
Die Täter gehörten zu den Siegern, und in deren „Wahrheit“ war kein Platz für eigene Verbrechen. Schlimmer noch: Die Opfer wurden auch im eigenen Lande an den Rand gedrängt, die Mehrheit des Volkes der „Verlierer“ hatte ebenfalls in ihrer „Wahrheit“ keinen Platz für sie. Man wollte nichts hören von Flucht und Vertreibung, vom Schicksal der Betroffenen.
Das scheint sich jetzt zu ändern. Seit zwei Wochen läuft im ZDF jeweils dienstags zur besten Sendezeit die Serie „Die große Flucht“. Verantwortlich ist Prof. Guido Knopp, der in Kreisen der Vertriebenen und der Konservativen als „umstritten“ gilt. Sie sind auch jetzt skeptisch, befürchten, daß die bisher tabuisierte Geschichte nun verfälscht werden soll.
Der erste Teil enthielt in der Tat eine Passage, die vielen Ostdeutschland anders in Erinnerung ist. Nemmersdorf, das Symbol menschenverachtender Brutalität schlechthin, soll zumindest teilweise von Göbbels zu Propagandazwecken mißbraucht oder gar inszeniert worden sein. Knopp führt Belege für diese Sichtweise an; wir kennen andere Belege, die für das Gegenteil sprechen. Über das Ergebnis unserer eigenen Recherchen werden wir berichten.
Nemmersdorf hat für vertriebene Ostdeutschland eine ganz besondere, sehr emotionale Bedeutung. Das macht auch manche heftige Reaktion auf die ZDF-Sendung verständlich. Dennoch muß man eines in Erinnerung rufen: Diese Serie ist nicht für die Ostdeutschland gemacht worden - die wissen das alles, und einiges wissen sie sogar besser. Die Serie und das begleitende Buch wenden sich vor allem an jene, für die Flucht und Vertreibung bislang Vorgänge „fern in der Türkei“, in Afrikas, auf dem Balkan oder, ganz aktuell, in Afghanistan sind. Nach dem Beitrag über Ostdeutschland sagte mir eine junge Kollegin: „Solche Bilder habe ich noch nie gesehen. Das hätte ich mir gar nicht vorstellen können - und so etwas bei uns, in Deutschland …“ Diese Wirkung dient der Sache Ostdeutschlands letztlich mehr als der Streit über das eine oder andere nicht korrekte Detail.
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