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Im Strudel der Ereignisse

 
     
 
Der Blick richtet sich jetzt mehr und mehr Richtung Osten: Die deutsche Hauptstadt liegt nur 50 Kilometer Luftlinie von der Ostgrenze an der Oder entfernt, und die Osterweiterung der EU steht vor der Tür. In manchen Kaufhäusern und öffentlichen Verkehrsmitteln wird mehr polnisch gesprochen als deutsch, und sogar der Bundestag debattiert über das Zentrum gegen Vertreibungen
, das in Breslau oder Berlin errichtet werden soll.

Im Deutschlandfunk wurden im Mai in der Sendung "Das politische Buch" Bücher mit Blick auf den europäischen Osten vorgestellt, an erster Stelle das neueste Buch von Helga Hirsch.

Dieses Buch ist eine Perle im Ozean. Helga Hirsch ist es gelungen, treffend, sachlich und dennoch gefühlsbewußt Fakten zusammenzutragen und Biogra- phien zu erstellen von noch lebenden Menschen, die man auch Zeitzeugen nennen könnte; Zeitzeugen für eine Zeit in einer Region - zwischen Oder und Weichsel -, die unvorstellbar wirr war und wirr erscheinende Folgen für Mensch und Land hinterlassen hat. Schon das Vorhaben, über die Schicksale dieser Menschen zu schreiben, ist bewundernswert. Helga Hirsch hat sich mit profunder Kenntnis von menschlichen Verstrickungen in Polen und in Deutschland an dieses Vorhaben gewagt und acht Portraits gezeichnet.

Die Sprache der Autorin ist klar, und treffsicher sind ihre Ausdrücke. Sie hat sich vorsichtig dem beschriebenen und interviewten Menschen genähert und versucht, seine Motive für sein Handeln herauszufinden und die bitteren, oftmals furchtbaren Folgen in einen historischen Zusammenhang zu stellen. Sie bedient sich aller Stilmittel, wörtlicher Rede, indirekter Wiedergabe, Zitaten aus Interviews, Be- richten aus Tageszeitungen, Ergebnisse aus Nachforschungen in Archiven. Wer sie kennt, weiß, daß sie nur gelten läßt, was bewiesen werden kann. Sie interviewt in einem breiten Umfeld, um Erklärungen zu finden, und urteilt ausgewogen. Doch viele Fragen läßt sie offen, weil sie nicht zu beantworten sind; das Nachdenken darüber lohnt sich allemal.

Es gibt kein Portrait, das nicht beeindruckt. Helga Hirsch stellt Menschen dar, erzählt von ihnen und plaudert mit ihnen. Damit ergründet sie, was unter der Oberfläche einen Menschen ausmacht. Sie schildert schillernde Persönlichkeiten: Deutsche Polen, polnische Deutsche, jüdische Polen, polnische Juden, Deutschpolen und Polendeutsche, katholische Juden und deutschamerikanische Polen. Religion, Nationalität, Volkszugehörigkeit (Ethnie), Familienbande, Propaganda und Ideologie sind mächtige Kräfte, die in übersteigerter Form Grenzen aufzeigen, die das Miteinander vergiften und zu Krieg, Vertreibung, Enteignung, Gefangennahme und Verschleppung führen.

Jede der portraitierten Personen hat ein unglaublich schweres Schicksal zu bestehen gehabt. Man wurde hineingeboren in die Welt zwischen Oder und Weichsel und mußte das akzeptieren und Entscheidungen treffen. Einer wanderte nach Amerika aus, eine nach Israel. Einer setzte sich für die unterdrückte deutsche Minderheit ein, der andere für die Zusammenarbeit mit den Vertriebenen. Einer wurde hoch geehrt, eine wird gemieden in Deutschland und in Polen. Zweifel der Menschen, ob die eigenen Entscheidungen im Leben richtig waren, spürt man bei jedem Interview.

Der Titel und der Umschlag lassen bei denen, die das Land zwischen Oder und Weichsel kennen, die Herzen höher schlagen. So sprach man dort, so schön war die Natur. Ist es also ein Buch aus der Heimat oder über die Heimat? Nein, die Heimat wird nicht beschrieben, auch nicht die Schicksale deutscher Heimatvertriebener. Vielleicht war es für mich deshalb so besonders interessant: In diesem Buch finden wir die Beschreibung unserer Nachbarn. Wir erfahren von ihren ureigenen menschlichen Geschichten - und sie kommen uns in vielen Teilen bekannt vor.

Das meiste aber wirkt neu, weil bisher in dieser Häufung nicht beschrieben wurde. Die Autorin stellt vor allem die Zusammenhänge der Bindungen, denen ein Mensch unterliegt, gewollt oder ungewollt, aber mit unermeßlichen Konsequenzen dar. Das Verhalten eines Polen zu den Deutschen oder eines Deutschen zu den Polen war vor dem Krieg, im Krieg oder nach dem Krieg völlig anderen Regeln unterworfen. Wie der Mensch sich entschied, gradlinig oder krumm, gebeugt oder geschunden, gestärkt oder gedemütigt, das war selten von der individuellen Entscheidung abhängig, sondern von wechselnden religiösen, ethnischen und nationalen Mächten.

Der Vergleich dieses Buches mit einer Perle im Ozean mag angesichts von Manès Sperbers Trilogie "Wie eine Träne im Ozean" übertrieben wirken. Weil sich jedoch noch niemand in dieser Intensität mit den Schicksalen der Menschen jenseits von Oder und Weichsel, die von dort stammen oder jetzt dort - zum Teil noch immer - leben, über das Schick-salsjahr 1945 hinaus beschäftigt und daraus ein lesenswertes Buch zusammengestellt hat, sei dieser Vergleich erlaubt.

Die Menschen zwischen Oder und Weichsel stehen uns näher, als die Erlebnisgeneration nach Flucht und Vertreibung je gedacht hätte. Das Buch von Helga Hirsch leistet einen großen Beitrag dazu, daß auch die nachfolgenden Generationen im modernen Europa wissen, welche Erfahrungen aus der Vergangenheit in die Zukunft eingebracht werden. Das geht bis zur EU-Osterweiterung und zu einem vereinten Europa, denn diese Menschen und das Land zwischen Oder und Weichsel werden dazugehören. Dieses Buch sollte gelesen werden, es ist generationenübergreifend, völkerverbindend und sehr spannend. Sibylle Dreher

Helga Hirsch, "Ich habe keine Schuhe nicht - Geschichten von Menschen zwischen Oder und Weichsel", Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2002, gebunden, 207 Seiten, 17,90 Eur
 
     
     
 
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