A B C D E F G H I J K L M N O P Q R S T U V W X Y Z
     
 
     
 

Jubiläum am Heiligenhof: Studium der Volksgruppen

 
     
 
Die Bildungsstätte Heiligenhof in Bad Kissingen besteht seit 50 Jahren und wird vom Sudetendeutschen Sozial- und Bildungswerk getragen. Im Oktober letzten Jahres wurde sie nach einem Totalumbau neu eingeweiht (Altbau: s. kl. unteres Foto; Neubau: großes Bild), um die heimatpolitische Arbeit im dritten Jahrtausend in modernen Räumen weiterzuführen.

Seit Herbst 1977 gibt es einen eigenen Arbeitskreis zu Volksgruppen- und Minderheitenfragen, der inzwischen auf eine 25jährige Tätigkeit zurückblickt. Die für November geplante Jubiläumsfeier entfiel wegen des Hochwassers in Tschechien, das auch die dort verbliebenen Landsleute
traf, und findet nun Ende Januar statt.

Vor dem Hintergrund des jahrhundertelangen geschichtlichen Wechselspiels mit den Tschechen in Böhmen und Mähren hatten sich die Sudetendeutschen schon in der alten Heimat mehr als andere Ostdeutsche mit der Problematik von Minderheitenschutz und Volksgruppenrechten beschäftigt. Als nach dem Ersten Weltkrieg eine Reihe neuer Staaten auf die Weltbühne getreten waren, zeigte es sich, daß auch nach dem Zerfall der klassischen Vielvölkerstaaten Russisches und Osmanisches Reich und Österreich-Ungarn sowie der Amputierung Deutschlands durch Versailles die Frage von nationalen Minderheiten und Volksgruppen in Europa nicht gelöst war.

Alle neu entstandenen Staaten hatten neben dem Staatsvolk bzw. den Staatsvölkern in ihren Grenzen zahlreiche "Nationalitäten", wie die Minderheiten damals meist genannt wurden. In der Tschechoslowakei und im Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen, wie das spätere Jugoslawien in den ersten zehn Jahren seines Bestehens hieß, waren die staatstragenden Völker für sich gesehen nur eine Minorität.

Deshalb brauchten die Tschechen die Fiktion des Tschechoslowakismus und zählten die Serben auch Kroaten und Slowenen bei der Volkszählung unter einer Rubrik, um Mehrheiten vorzutäuschen. Dabei gab es in der Tschechoslowakei mehr Sudetendeutsche als Slowaken.

Die Minderheiten der damaligen europäischen Staaten suchten bald die Zusammenarbeit über Grenzen hinweg und organisierten seit 1920 eine Reihe von Nationalitätenkongressen. Von Anfang an arbeiteten dabei auch Sudetendeutsche mit.

In dieser Tradition sah sich seit 1977 der neue Arbeitskreis auf dem Heiligenhof. Die Idee zur Gründung ging von dem damaligen Studienleiter Erich Kukuk aus, der mit seiner Frau Traudl bis zu seinem Tode 1994 Seele und Herz des Hauses war - ein Erbe, das Traudl Kukuk nach 1994 bis zu ihrem Ruhestand erfolgreich weiterführte.

Der Initiator gewann zwei Landsleute zur regelmäßigen Mitarbeit: den Kirchenhistoriker Dr. Rudolf Grulich und den Pädagogen Dr. Ortfried Kotzian, der heute das "Haus des Deutschen Ostens" in München leitet. Als Dreiergespann führten sie den Kreis, der zweimal im Jahr tagte und bald mit einer Reihe von Veröffentlichungen auf sich aufmerksam machte.

Grulich gehörte seit 1977 zugleich dem Gründungskuratorium des von dem Sudetendeutschen Prof. Dr. Josef Stingl gegründeten "Internationalen Institutes für Nationalitätenrecht und Regionalismus" (INTEREG) an, das seit letztem Jahr von Kotzian geleitet wird.

Die Themen der im Frühjahr und Herbst stattfindenden Tagungen zeigten in den ersten Jahren einen Schwerpunkt bei den damals fast überall im Ostblock diskriminierten Deutschen, jedoch wurde bald auch die Lage anderer Minderheiten einbezogen.

Ein Informationsdienst Volksgruppen-Bausteine Europas sollte den Mitgliedern Material für ihre Aufgabe als Multiplikatoren liefern, entwickelte sich aber bald zu einem auch von Fachleuten wie Prof. Dr. Veiter oder Dr. Walter Becher gelobten Informationsblatt.

Aus Arbeitshilfen wie dem dreimal aufgelegten Heft "Die Deutschen in Ost- und Südosteuropa" entstand eine Buchreihe Heiligenhofer Studien zu Volksgruppenfragen, die durch die Reihe Impulse ergänzt wurde. Deren Titel verdeutlichen aus umfassender kulturpolitischer Sicht heutige und künftige Aufgaben der sudetendeutschen Volksgruppe und vermitteln Denkanstöße zur Identitätswahrung.

Da die Leiter des Kreises von Anfang an fächerübergreifend alle Interessierten ansprechen wollten, fand auch die schöngeistige Literatur ihren Platz, und zwar in der Reihe Poesis ethnica, die Dichtung von Minderheitenautoren - vor allem von Dichtern kleiner Sprachen - veröffentlichte.

Eine Aufzählung aller Veranstaltungen würde den Rahmen sprengen. Die folgende Themenauswahl früherer Seminare soll lediglich die enorme Bandbreite aufzeigen: Südtirol heute, Die Deutschen in Belgien, Föderalismus - eine Bestandsaufnahme, Die Rolle der Kirchen für die Identitätsfindung einer Volksgruppe, Österreich-Ungarn und die Folgen, Volksgruppenprobleme im Nahen Osten, Ein vereintes Europa - aber welches?, 1000 Jahre Ukraine - das Millennium, Volksgruppen und Medien, Der mährische Ausgleich als Grundlage und Beispiel für ethnischen Frieden in Europa usw.

Die Wende seit Glasnost und Perestrojka brachte Gäste und Referenten aus dem ganzen östlichen Europa auf den Heiligenhof. Neue Krisen fanden ihren Niederschlag in weiteren Publikationen, insbesondere zum Krieg im ehemaligen Jugoslawien. So erschienen Bücher wie "Kroaten und Serben - zwei alte verschiedene Völker" von Dominik Mandic, "Eine Geschichte Kroatiens, Serbiens und Bosniens" von Ivo Pilar oder "Die Lage in Kosova" von Michael Ackermann.

Aus der Reihe "Impulse" seien erwähnt: "Zur Zukunft der sudetendeutschen Volksgruppe" von Kotzian/Knapek und "O Prag, wir zieh n in die Weite. Sudetendeutsche in aller Welt" von Rudolf Grulich. Die Reihe "Poesis ethnica" überwand manche Sprachbarriere und bot Übersetzungen aus dem Albanischen, Mazedonischen, Bulgarischen und Lachischen sowie ein Monodrama der kroatiendeutschen Autorin Lydia Scheuermann über ein Vergewaltigungsschicksal in Ostslawonien.

Der Tod von Erich Kukuk bedeutete für den Arbeitskreis einen schweren Verlust. 1996 trat der damalige Studienleiter Carsten Eichenberger, der ostdeutscher Herkunft ist, in das Leitungsgremium ein. Er ist seit früher Jugend mit Volksgruppenfragen vertraut und schrieb eine Magisterarbeit zum Thema "Die Deutschen in Polen".

Vom 31. Januar bis 2. Februar 2003 wird der Arbeitskreis in größerer Runde Bilanz ziehen. Als Referenten sind Professor Pan aus Bozen, Prof. Karl Schlögel aus Frankfurt/Oder und der Bundestagsabgeordnete Mathias Sehling vorgesehen, der 1977 mit 18 Jahren als jüngster Teilnehmer die Gründung des Kreises erlebte.

Mit dem Ende der kommunistischen Herrschaft ist das Interesse an Minderheitenfragen noch gewachsen. Bereits 1985 hatte die Föderalistische Union Europäischer Volksgruppen (FUEV) in Genf die Tradition der Europäischen Nationalitätenkongresse der Vorkriegszeit wieder aufgenommen, die sie seitdem alle zwei Jahre durchführt.

Während es zum Beispiel bis 1991 keine bodenständige russische Volksgruppe außerhalb der Sowjetunion gab, sind heute fast 30 Millionen Russen Angehörige von nationalen Minderheiten in 14 unabhängig gewordenen Ländern. In manchen der neuen Staaten wächst das Krisenpotential, weil Regeln des Volksgruppenrechtes und des Minderheitenschutzes nicht eingehalten werden.

Keine der seit 1991 entstandenen Gründungen ist ein echter Nationalstaat. In Lettland, Kasachstan und Kirgistan stellt die Titularnation sogar kaum die Mehrheit. Zusammengenommen leben heute innerhalb der europäischen Staaten über 200 Volksgruppen mit mehr als 100 Millionen Menschen.

Diese Zahl beinhaltet jene Gruppen, die der Volksgruppen-Definition genügen, wie sie im FUEV-Statut formuliert ist: "(...) eine volkliche Gemeinschaft, die insbesondere durch Merkmale, die sie erhalten will, wie eine eigene Sprache, Kultur und Geschichte, gekennzeichnet ist. Sie bildet in ihrer Heimat keinen eigenen Staat oder ist außerhalb des Staates ihrer Nationalität beheimatet (nationale Minderheit)."

Auf dem Heiligenhof war stets nur von Volksgruppen die Rede, die ihren angestammten Sitz in dem Staat haben, in dem sie eine Minderheit bilden. Nicht behandelt wurden Gruppen ausländischer Gastarbeiter, Flüchtlinge, Aussiedler oder Asylanten, die in jüngerer Zeit Aufnahme gefunden haben.

In manchen Ländern war und ist die Grenze zwischen einzelnen Gruppen schwer zu ziehen, denn es gab etwa im Baltikum in der Zwischenkriegszeit russische Minderheiten, die aber wenig gemein haben mit den Hunderttausenden, die nach 1940 bzw. 1944 von der Moskauer Führung ins Land gebracht wurden, um die einheimische Bevölkerung zu russifizieren.

Nicht immer gibt es konkrete Kriterien für die Definition von Volksgruppen. In der Sowjetunion hatte Stalin beispielsweise eine Politik gegen nicht-russische Völker betrieben, indem er nach dem Prinzip "divide et impera" künstliche Ethnien schuf, so daß bei den Volkszählungen von 1926-89 die Zahl der Volksgruppen zwischen 100 und 180 schwankte.

Themen und Aufgabenstellungen gibt es zuhauf. - Möge sie der Arbeitskreis auf dem Heiligenhof im zweiten Vierteljahrhundert seines Bestehens genauso erfolgreich angehen wie bisher.

Wer nach den Ausführungen von Prof. Dr. Hampel Interesse an einzelnen Veröffentlichungen des Arbeitskreises oder künftigen Seminaren hat, sollte sich direkt an den "Heiligenhof" wenden: Alte Euerdorfer-Str. 1, 97688 Bad Kissingen, Tel.: 0971/7147-0, Internet: www.heiligenhof.de&nbs
 
     
     
 
Diese Seite als Bookmark speichern:
 
     
     
     

     
 

Weitere empfehlenswerte Seiten:

Schönes und erholsames Wochenende

Konkurrenz für Potter?

Boom in Osteuropa

 
 
Erhalten:
 

 

   
 
 
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11
WISSEN48 | ÜBERBLICK | THEMEN | DAS PROJEKT | SUCHE | RECHTLICHE HINWEISE | IMPRESSUM
Copyright © 2010 All rights reserved. Wissensarchiv